SOEN – Aus dem Schatten
SOEN – „Lotus“
Veröffentlichungsdatum: 01.02.2019
Länge: 54:06 Min.
Label: Silver Lining/Warner
Genre: Progressive Metal
Tatsächlich bin ich mir recht uneins, was ich zum neuen Werk der Schweden, welche immer als TOOLesk oder OPETHish – auch von mir selbst – gebrandmarkt wurden, denke. Um mein Hirn zu sortieren und dich auf den neuesten Stand zu bringen also hier die Review zu „Lotus“!
Vorhang auf!
Eines vorweg: „Lotus“ ist anders als SOENs zuvor veröffentlichte Alben und wartet dennoch mit wenigen Überraschungen auf. Die zuvor erschienene Neuauflage von „Lykaia“ bescherte mir neben einem besseren Hörerlebnis dank ausgebügelter Missstände im Mixing auch drei Livesongs zum In-Erinnerung-Schwelgen. Nun wird gleich im ersten Anlauf ein ordentlicher Mix angeboten. Das wirkt sich vor allem vorteilhaft auf den Gesang aus, der sich insgesamt auch weiterentwickelt hat. Joel ‚Jogi‘ Ekelöf darf auf „Lotus“ um ein Vielfaches mehr seiner Gesangskünste zeigen. Das führt nicht nur dazu, dass das Hören mehr Spaß macht. Er macht damit auch einige emotionale Register auf, die in dieser Tiefe bisher auf SOENs Veröffentlichungen ausblieben.
Live hat diese Band, oder genauer: dieser Sänger jedoch noch so viel mehr zu bieten. Ihn in seinem Ton und Stimmumfang eins zu eins auf Platte zu bringen, ist leider wieder nicht vollumfänglich gelungen. Das ist genau das, was ich schade finde. Aber es ist eine Entwicklung in die richtige Richtung vollzogen. Der Sänger steht nun als Speerspitze und stimmlich leuchtendes Element im Fokus des Geschehens und wirkt nicht mehr wie gefälliges Beiwerk. Besonders stark sind „Penance“ und der Titeltrack des Albums hervorzuheben. „Lotus“ markiert für mich gleichzeitig aber auch einen Negativaspekt, der sich über die Gesamtlänge des Albums manifestiert – er ist einfach mal soft.
Dank der ausgebauten Gesangsfacetten, aber auch aufgrund des Mixings dringen insgesamt mehr Emotionen durch. SOEN lassen das Klinische hinter sich. Das Songwriting ist ausgefeilter und die Gitarre bekommt Raum für dominantere Passagen. Dabei verliert sie sich aber nie in selbstverliebten Spielereien. Im Gegenteil! Die Songs sind sehr catchy, bleiben darin aber hinter starken Hooks wie denen von „Lykaia“ zurück. Und dennoch – die Melodien drehen sich herrlich ins Ohr. Mich ereilt jedoch kaum eine Überraschung während des Hörens. Viele Abläufe und Linien sind zu erahnen.
Mir fehlt da der Kick.
Mir fehlt das überraschte ‚Oh, das hätte ich jetzt so nicht erwartet!‘ oder beim dritten Hören ein ‚Huch, das ist unterschwellig doch echt verdreht geschrieben!‘. Das klingt jetzt, als wäre ich furchtbar gelangweilt. Was absolut nicht stimmt! Der Opener „Opponent“ weiß wachzurütteln, meine Aufmerksamkeit zu bündeln. Er klingt und funktioniert als Eröffnung ähnlich wie „Lykaia“s „Secterian“. Und „Covenant“ hat eine tolle songinterne Progression und Heavyness. Der Schub verläuft sich jedoch leider über die Dauer des Albums.
Viele Songs sind eher rockig als voll auf die Zwölf – und ich schwanke zwischen: ‚Boah, nee, macht mal mehr Druck‘ und ‚Ich kann mich da grad richtig gut fallen lassen‘. Die Zusammenarbeit von Bass und Schlagzeug treibt mir wiederum fast Freudentränen in die Augen. Sie ist durch die Bank weg sehr gut. Sowohl der Titelsong als auch „River“ glänzen mit tollen Gitarrensoli. Die Intonation der Leadgitarre ist nicht nur in den sehr überschaubaren Solo-Passagen hervorragend. Der Sound ist …
warm und voll, wie eine heiße Wanne nach einem Spaziergang im Winter.
Ich höre das Holz, das Metall, die Felle – die Instrumente leben, sie atmen, sie funktionieren spürbar ineinander verzahnt als Ganzes. Lopez an den Drums songdienlich und treibend. Stenberg erneut am Bass äußerst solide. Tonal und rhythmisch Schleifen ziehend, niemals gelangweilt, mit genügend Punch und Knackigkeit. Die Gitarre unaufgeregt flächig und in Lead-Passagen von warm-bluesig bis atmosphärisch-proggy, aber niemals cheesy und übertrieben. Da hat der Besetzungswechsel von Jidell zu Cody Ford keine nennenswerte Lücke gerissen. Eher im Gegenteil – möchte ich behaupten. Die Keys stützen die Atmosphären, wirken aber oft nur wie Füllmaterial, das aus Verlegenheit und zur Rechtfertigung seines Einsatzes ab und zu hervorblitzt. Da ist sicher noch Luft nach oben, Åhlund mehr Eigenständigkeit zuzugestehen. Und Ekelöf – wie gesagt – klingt um Meilen besser als zuvor und arbeitet in mehr Stimmregistern. An das Liveerlebnis kommt die Produktion dennoch nicht heran.
Nachwort:
Und was wird jetzt aus den stetig gezogenen Parallelen zu TOOL? Die sollten nun langsam meiner Meinung nach mal der Vergangenheit angehören. Oberflächlich mögen sie noch immer als Klon erscheinen. Weisen doch beide Sänger ein sehr ähnliches Timbre auf und der Bandsound ist nahezu gleich. Aber SOEN schreiben Songs, die weniger als großrahmige ‚Kunst um der Kunst Willen‘ erscheinen, wie es zugegebenermaßen bei TOOL doch oft der Fall ist. Songs, in denen sie sich zwar nach wie vor klar dem TOOLschen Handwerkszeug bedienen, hinter ihnen aber nicht (mehr) verstecken brauchen. Ihre Songs sind direkter, klarer auf Aussage und Emotion ausgearbeitet.
In einem Wort: prägnanter.
Und – was sie wohl am weitesten aus dem Schatten heraustreten lässt: Sie sind in puncto Neuerscheinungen im Moment um Einiges relevanter als TOOL.
Autorenbewertung
Vorteile
+ Weiterentwicklung in Gesang und Arrangement
+ songdienliche Soli
Nachteile
- Gesang bleibt noch immer weit hinter dem Liveerlebnis zurück
- zu soft
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