Solstafir live in Berlin – Von gekauftem Glück und einer Predigt auf Isländisch
Geld allein macht nicht glücklich, stimmt’s?
Aber wenn man das Geld in ein einzigartiges Konzert investiert, sieht die Sache schon anders aus. Richtig – ich war mal wieder privat und in musikalischer Mission in unserer schönen Hauptstadt unterwegs. Und doch komme ich nicht umhin, euch daran teilhaben zu lassen, was mir dort widerfahren ist. Denn vergangenen Samstag hat es mich in eine Location gezogen, die sonst auf meiner No-Bucket-List ganz weit oben steht: in eine Kirche nämlich, genauer gesagt in die Apostel Paulus Kirche in Berlin-Schönefeld.
Was für eine ungewöhnliche Location für ein Konzert, denkt ihr? Hab ich auch gedacht. Aber weit gefehlt: Die Apostel Paulus Kirche öffnet ihre Tore ziemlich regelmäßig für musikalische Veranstaltungen – und dieses Mal eben für SÓLSTAFIR, die isländischen Sympathieträger. Die sind aktuell auf ihrer „The Midnight Sun: A Light In The Storm“-Tour unterwegs. Warum mir jeder, der das verpasst hat, schrecklich leid tut, erfahrt ihr jetzt. Bühne frei für isländischen Kirchengesang!
Samstag Abend in Berlin – Es liegt Currywurst in der Luft!
Tatsächlich habe ich die Isländer zuvor noch nie live zu Gesicht bekommen, doch dieser Abend soll laut der spärlichen Beschreibung wohl ein ganz besonderer werden. Die sonst 4-köpfige Truppe wird heute um einen Tastenhexer und ein Streichquartett ergänzt. Bei einer Band, die in ihren Produktionen so häufig auf Streicher zurückgreift, ist das wahres Gold für die Ohren. Da lag die recht spontane Entscheidung, sich noch ein paar Tickets zu sichern, nicht unbedingt fern. Und das Glück war auf meiner Seite: Nur wenige Stunden später ist die Hütte ausverkauft. Und das zeigt sich an der Location überdeutlich: Schon um halb 7 hat sich vor der Kirche eine nicht ganz unerhebliche Schlange gebildet. Doch uns quält erst einmal das kleine Hüngerchen, also machen wir uns als Nicht-Berliner auf die Suche nach einem kulturell tief verwurzelten Traditionsgericht der Stadt: einer Currywurst.
So richtig fündig werden wir leider nicht, obwohl scheinbar der ganze Stadtteil nach Currywurst riecht. Wir geben uns also mit einer minder zufriedenstellenden Alternative ab, kehren zur Kirche zurück – und die Schlange vor dem Kircheneingang ist mittlerweile lang genug, um bis in die nahe gelegene U-Bahn-Station zu reichen. Nah schön, dann also hinten drangestellt und in kleinen Schritten bis zum Eingang gewackelt. Kein Problem, bis wir ins Innere der Kirche gelangen.
Die ist nämlich – ganz im Gegensatz zu uns – schon voll. Nun ist so eine Kirche allerdings auch keine einfache Location für Musikveranstaltungen, vor allem nicht für solche komplexerer Art. Die Verwinkelungen und hohen Decken schreien eigentlich nach Hall und Tonmatsch. Und so gilt es, einen Platz zu finden, der neben hinreichender Sicht zur Bühne auch noch halbwegs guten Klang bietet. Wir entscheiden uns für das Seitenschiff der Kirche. Und als der isländische Kirchengesang vom Band endlich verklingt, betreten auch schon die Isländer und ihre 4 Mitstreiterinnen an den Streichinstrumenten die Bühne.
Wenn die Platte zum Gefängnis wird
Und was dann beginnt, ist ohne jede Übertreibung als 3 Stunden pures musikalisches Glück zu bezeichnen. Nach einem kurzen Spannungsaufbau durch „Náttfari“ aus der Büchse starten SÓLSTAFIR mit „Náttmál“ und „Ótta“ vom gleichnamigen Album und beweisen ganz ungeniert, dass wir sie ohne Umschweife zu den Bands zählen dürfen, die sich live noch besser anhören als auf der Platte. Die Enge gepressten Vinyls scheinen sie heute Abend völlig abgestreift zu haben. Denn die Soundwand, die sich gerade ihren Weg durch die heiligen Hallen bahnt, erfasst mich in Fingerspitzen und Zehen, zieht sich als wohlige Gänsehaut über meinen Körper und lässt mich mit vor Fassungslosigkeit offen stehendem Mund zurück. Schuld daran trägt wohl vor allem Sänger Aðalbjörn Tryggvason. Der schreit seine Seele so ungeniert wie ein Kind in das lange Kirchenschiff hinein.
Zum Ende von „Ótta“ verzichtet er gänzlich auf ein Mikrofon und brüllt – immer noch hörbar – so viele Emotionen gleichzeitig über die im Mittelschiff sitzenden Besucher hinweg, dass man sich nur vorstellen möchte, wie er am Rande eines isländischen Fjordes steht und mit einem Schrei, der ein halbes Leben bedeuten kann, die elende Weite erfüllt. Und wer seinen Blick jetzt kurz von der Bühne wegreißen und über die Menge streifen lassen kann, der wird feststellen: Hier passt nicht nur die Musik, sondern das Gesamtkonzept Location-Licht-Sound-Publikum. An allen Wänden und in jeder Nische der Kirche leben die Schatten der Musiker, die von dem atemberaubenden, und doch keineswegs übertriebenen Lichtkonzept in den Raum geworfen werden.
„Wenn die öfter solche Veranstaltungen machen würden, dann kämen auch wieder mehr Leute!“
1200 Seelen, vielleicht sogar einige mehr, bevölkern heute die Apostel Paulus Kirche und sind gefesselt von diesem einzigartigen Konzert, was sich dann doch viel mehr wie eine Privatveranstaltung anfühlt. So nah sind sich Publikum und Musiker – wenn vielleicht nicht physisch, dann heute Abend doch auf jeden Fall durch den Klang und die Atmosphäre. Die dringen nämlich in jeden Winkel der Kirche vor. Es fühlt sich surreal an, fast wie ein Traum – wozu der ganz eigene Sound der Band natürlich sein übriges beiträgt. Wer bei SÓLSTAFIR nicht abschalten kann, dem wird wohl auch Baldrian nicht mehr helfen können. Nun richtet Sänger Aðalbjörn das Wort an die versammelte Gemeinde. Das heutige Konzert sei eine Sammlung von Lieblingsliedern der Band. Und wie sich herausstellen soll, teilen sich die Isländer und ich scheinbar einen Geschmack, was die Favoriten ihrer Diskografie anbelangt.
Von Masterpiece of Bitterness bis Berdreyminn: Eine Zeitreise
Denn nach „Dýrafjörður“ folgen jetzt „Hula“ und „Miðaftann“, drei Songs, die sich einen festen Platz in meiner ewigen Playlist erkämpft haben. Besondere Aufmerksamkeit dürfte heute Keyboarder Ragnar Ólafsson zuteil werden, der schon vor 2 Jahren von der Band ÁRSTÍÐIR ausgeborgt und scheinbar nicht zurückgegeben worden war. Der Mann an der Hammondorgel mit der beneidenswerten langen blonden Mähne, der mit seinen Haarschüttelaktionen ganze Fliegenschwärme vertreiben könnte, macht nicht nur an den Tasten, sondern auch beim Backgroundgesang eine unfassbar gute Figur. Hier trifft er scheinbar problemlos selbst für mich als Frau unerreichbare Tonhöhen mit markerschütternder Klarheit in der Kopfstimme.
Ach, und fast hätte ich sie vergessen, bei all den Eindrücken, die meine Sinne heute verarbeiten müssen: Das Streichquartett tut natürlich sein übriges dabei, den ganz besonderen Sound dieses Abends zu prägen. Gerade das himmlische Intro von „Dýrafjörður“erfüllt so die Kirche bis unters Dach mit einer immensen Farbpalette an Klängen. Zwischen den lauteren Songs gehen die 4 Damen zu Beginn zwar etwas unter, das gibt sich allerdings etwas über den Verlauf des Abends. Irgendetwas muss man ja zu meckern haben! Nun folgt auf jeden Fall eine kurze Pause. Eine gute Gelegenheit also, sich ein paar Bierchen zu gönnen, die mit 4,50€ für 0,4l Gesöff doch ziemlich harsch veranschlagt sind (muss wohl die Kirchensteuer sein).
Zwischen Traum und Realität
Kurze Zeit später geht die Best-Of-Party auch schon weiter. Wir steigen ein mit „Lágnætti“, einem Song, der mir in seiner Tiefe und Schwere persönlich schon immer sehr nahe gegangen ist. Der sanfte Gesang von Aðalbjörn in Verbindung mit der Hoffnungslosigkeit und Lethargie des E-Pianos, das von den Damen an Geigen und Cello untermalt wird, begräbt mich unter sich, sodass ich nur die Augen schließen und die Musik wie eine dichte Wasserdecke über mir fühlen kann, die nur die letzten, verzweifelten Sonnenstrahlen zu mir durchdringen lässt.
Vergleichbar ruhig geht es mit „Hvít sæng“ weiter, bevor es nach stürmischem Beifall plötzlich totenstill in der gesamten Kirche wird. Grund dafür ist die Ansage von Sänger Aðalbjörn, der den nächsten Song ankündigt. „Necrologue“ soll es werden, ein Song, den die Band binnen einer Stunde für einen Freund geschrieben haben soll, als dieser Suizid begangen hatte. Als die Band einsetzt, fahren mir der Bass und die englischen Lyrics des Songs durch Mark und Bein. Da wabert viel Schmerz durch das Kirchenschiff.
Damit die Stimmung allerdings nicht getrübt bleibt (wobei das bei der allgemeinen Euphorie im Publikum schon fast unmöglich ist), holen die Jungs jetzt noch „Fjara“ aus der Trickkiste hervor. Da dreht die Menge natürlich durch und man folgt mit ganzem Herzen der Reise von Aðalbjörn und seinen Kollegen durch die musikalischen „Gezeiten“ ihres wahrscheinlich größten Hits – bis zu jetzt, versteht sich. Seine Stimme, die heute in diesen ungewöhnlichen Hallen erst den Raum bekommt, den sie verdient, ist heute definitiv eins der Highlights des Abends. Jeden einzelnen Song so auf den Punkt, emotional und abwechslungsreich rüberzubringen, und das inmitten einer Tour, in der die Band über zweieinhalb Wochen nicht einen Tag zum Durchatmen hat, ist wahre Kunst.
Wenn der Abend niemals enden darf
Zum Schluss gibt es noch zwei völlig bereitwillig gegebene Zugaben, denn etwaiges Von-der-Bühne-gehen-und-sich-feiern-lassen hat die Band heute wirklich nicht nötig. Schließlich ist die anwesende Menge trotz Saalbestuhlung so aus dem Häuschen, dass sich die Isländer vor Gegenliebe kaum retten können. Und während „Kukl“ anklingt, wünscht man sich noch, den heutigen Abend ewig festhalten zu können. Dass das nicht funktioniert, zeigt sich spätestens, als an letzter Stelle mit „Godess Of The Ages“ noch ein echtes Stückchen Rock folgt.
Hier wird das Publikum auf „One-Two-Three-Four“ zum Schreien gebeten – und glaubt mir, da wird einem schon anderes, wenn sich weit über 1000 Menschen in einer Kirche die Seele aus dem Hals brüllen. Aðalbjörn hat nun richtig Blut geleckt, schnappt sich sein Mikrokabel, um die Kanzel zu erklimmen, von dort aus weiterzusingen und mit einigen Besuchern auf der Empore Brofists auszutauschen.
Mein Fazit: Wann geht der nächste Flug nach Island?
Damit endet ein Konzert, das problemlos das Prädikat „einzigartig“ mit nach Hause tragen darf. Wir verweilen noch ein wenig und werden von den Bandmitgliedern überrascht, die sich nur wenige Minuten nach dem Konzert in der fast geleerten Kirche auf ein Schwätzchen mit den Fans niederlassen. Eine tolle Geste für einen tollen Abend. Mein Fazit: Meine Zweifel über die Wirksamkeit des Konzeptes eines SÓLSTAFIR-Konzertes in einer Kirche sind schon in den ersten Tönen des heutigen Abends im Sande verlaufen.
Etwaige Schwierigkeiten in Sachen Sound wurden mit Bravour gemeistert und mit der genialen Lichtshow gab es obendrein auch noch was auf die Augen. Auch die Leistung der Band mit den musikalischen Möglichkeiten, die sich auf dieser Tour mit dieser starken Besetzung ergeben haben, wird zukünftig nur schwer zu toppen beziehungsweise zu erreichen sein. Wer jetzt danach lechzt, an der Tour noch teilnehmen zu können, den muss ich leider enttäuschen: Alle Termine im deutschsprachigen Raum sind schon gelaufen. Im Sommer könnt ihr SÓLSTAFIR bei uns auf dem Partysan Open Air erleben – dann allerdings in reduzierter Originalbesetzung.
Vielen lieben Dank an Sunvemetal für die tollen Bilder, die die Atmosphäre dieses Abends richtig zur Geltung kommen lassen! Hier findet ihr ihre Arbeit auf Facebook, Instagram und im Web.
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