STÜRMISCHE ZEITEN – RAGNARÖK 2022 Teil 1
Merlin: Finally! Das RAGNARÖK FESTIVAL 2022, auf das ich so lange hingefiebert habe, ist angebrochen! Ich freu mich wie bolle!
Eine stürmische Begrüßung
Die ganz ambitionierten Metaller sind bereits gestern, am Donnerstag, angereist und haben Abends in den Räumlichkeiten der Stadthalle Lichtenfels eine wilde Party gefeiert. Wir für unseren Teil kommen Freitag Mittag beim Festivalgelände an und müssen als erstes feststellen, dass alle Parkmöglichkeiten in nächster Nähe schon nahtlos ausgeschöpft sind. Ärgerlich. Aber wenigstens zum Ausladen dürfen wir auf dem Feldweg seitlich des Veranstaltungsgeländes stehen bleiben. Es folgt die nächste Hiobsbotschaft: Der Hauptcampingplatz direkt neben dem Infield ist vollständig ausgelastet. Also weiter zum zweiten Campingplatz! Der ist zwar etwas weiter weg, dafür aber idyllisch auf der Wiese direkt am Fluss gelegen. Und hier ist es noch so schön leer, dass wir den Platz für unser Zelt völlig frei wählen können. Hammer!
…den brauchen wir auch direkt, als es ums Einschlagen der Heringe geht. Der Boden ist eigentlich optimal, doch der Wind fegt so unbarmherzig über die Wiese, dass wir uns entschließen, das Zelt extra gut zu sichern. Doch auch wenn wir verhindern können, dass uns Zelt samt Tasche um die Ohren fliegen: Besonders stabil sieht das Ganze nicht aus. Geschweige denn gemütlich. Aber wird schon halten! Wir fahren also das Auto weg und als wir zurück zum Zeltplatz kommen, sehen wir unsere Campnachbarn gerade ihren Pavillon zusammenräumen. Oder sagen wir besser: Das, was vom Pavillon noch übrig ist. Den hat es nämlich ganz schön zerlegt! Zum Glück sorgen die milden Wolken am Himmel dafür, dass es auch ohne gut aushaltbar ist.
Test, Test
Aber jetzt hab ich so viel gequatscht, wir brauchen doch noch unsere Bändchen! Sonst kommen wir schließlich nicht aufs Infield. Und das Infield gilt es jetzt möglichst schnell aufzusuchen, immerhin ist es schon 14 Uhr durch und die erste Band des Tages spielt bereits. Bevor wir jedoch unsere Festivalbändchen erhalten, müssen wir zunächst noch den Corona-Test am eigens dafür aufgebauten Testzelt bestehen. Die anwesenden Sanitäter registrieren unsere Daten, nehmen jeweils die Probe und drücken uns 15 Minuten später die Zettel mit unseren (negativen) Testergebnissen in die Hand. Die gilt es nun bei der Bändchenausgabe vorzuzeigen und zack, sind wir auch schon ausgestattet mit den Eintrittskarten fürs Handgelenk. Dann jetzt aber nichts wie los in die Halle! Ob die erste Band wohl noch spielt?
Zur ersten Band kommt man immer zu spät
Von LIVLØS bekomme ich leider nur noch die letzten Minuten mit. Als ich die Stadthalle betrete, sehe ich gerade noch, wie der Sänger aus dem Publikum heraus zurück auf die Bühne klettert. Offenbar war er auf Tuchfühlung mit den begeisterten Zuschauern gegangen, die dicht gedrängt hinter der Absperrung stehen. Die Stimmung ist aufgeheizt, die Band und die Besucher haben gleichermaßen Bock. Das ist auf Festivals bei der ersten Band des Tages ja nicht immer selbstverständlich, häufig haben es die frühesten Künstler am schwersten. Aber LIVLØS haben mit ihrem temperamentvollen Melodic-Death-Metal das RAGNARÖK FESTIVAL 2022 selbstbewusst und fulminant eröffnet! Da lassen sich die dynamischen Dänen auch die Gelegenheit nicht nehmen, diese gelungene Einleitung mit einem Foto festzuhalten.
Den Tag zur Nacht
Als nächster Act stehen LUCIFERS CHILD aus Griechenland auf dem Programm. „Guten Abend Ragnarök! Are you with us tonight“?, begrüßt der Sänger seine Zuhörer. Dass es erst 15 Uhr am Nachmittag ist, spielt keine Rolle. LUCIFERS CHILD beschließen nämlich kurzerhand, einfach selbst die Nacht zu sein. Sie spielen klassischen Black-Metal mit okkulten Themen, düster und hart. Und wie sich beim dritten Song herausstellt, taugt ihre Musik live sehr gut für Circle Pits. Sänger MARIOS feuert die Menge an, fordert auch immer wieder zum Klatschen auf. Überhaupt wirkt die gesamte Band sehr motiviert, was dem Konzerterlebnis auf jeden Fall zugute kommt. Beim letzten Song werden die Zuschauer erneut zu einem Circle Pit animiert; der junge Mann mit Dreads vor mir kann es kaum erwarten und hüpft auf und ab, bevor er dann wie von der Tarantel gestochen barfuß in den Pit sprintet. Was soll ich sagen? LUCIFERS CHILD waren eine Droge, die gewirkt hat. So kann der Tag bitte weitergehen!
Feel The Spirit
Auf dem RAGNARÖK ist es ja immer so, dass es zwei Bühnen gibt, die direkt nebeneinander stehen und auf denen sich die Bands jeweils abwechseln. So hatten LIVLØS auf der linken Bühne angefangen, LUCIFERS CHILD spielten sodann auf der rechten Seite, und nun wuseln die Menschen wieder nach links, um THE SPIRIT in Augenschein nehmen zu können. Auch die Tribüne der Stadthalle füllt sich, unten wie oben ist gut was los, aber noch stehen die Leute locker, nicht gedrängt. THE SPIRIT haben sich immerhin ein bisschen Bühnengestaltung überlegt: Links und rechts ist jeweils ein Standbild aufgebaut, auf dem kosmische Motive in blau zu erkennen sind, und im Hintergrund hängt groß ihr Logobanner ausgespannt. Sodann betritt die Band höchstselbst die Bühne und legt los.
Melodischer, atmosphärischer Black-Death, das ist das Konzept von THE SPIRIT. Der Sound ist gut und sauber, hat ordentlich Wumms, das Schlagzeug bricht sich energisch Bahn. Dazu kommt der Gesang erstaunlich hart für das doch recht junge wirkende Gesicht dazu. Was ein fehlender Bart doch ausmachen kann… ich hätte den Sänger auf der Bühne locker 10 Jahre jünger geschätzt, als auf den Bandfotos. Apropos Gesicht: Das des Gitarristen bekommt man übrigens fast die ganze Show über gar nicht zu sehen. Er blickt nonstop auf sein Instrument, schaut verbissen, ganz bei der Sache. Und sein aufmerksames Spiel macht sich bezahlt, die Saarländer liefern professionell und mehr als solide ab. Ganz in Beschlag nehmen kann mich der Spirit zwar nicht, aber das liegt vielleicht auch daran, dass ich langsam Durst bekomme. Wo gibt’s was zu trinken?
Ich hab euch was zu beichten
Eigentlich war ja geplant, dass jetzt die Schwarzmetaller von GROZA auftreten würden. Aufgrund unser aller Liebling Corona mussten die Bayern ihren Auftritt auf dem RAGNARÖK 2022 aber leider kurzfristig absagen, und KANONENFIEBER sind ungemein spontan für sie eingesprungen. Geile Sache, dass es so kurzfristig noch gelungen ist, den Slot neu zu besetzen. Und musikalisch gesehen passen die Franken natürlich auch voll ins Beuteschema der RAGNARÖK-Besucher. Allein, ich habe ein Problem mit KANONENFIEBER (ganz abgesehen davon, dass ich den Namen befremdlich finde): Ihre Optik. Ich weiß, der 1. Weltkrieg ist das Thema ihres kreativen Schaffens, und dazu passen halt auch die Outfits. Aber ich kann mir das nicht angucken. Es gibt mir einfach ein ganz unangenehm beklemmendes Gefühl. Vielleicht soll genau das ja auch Sinn der Sache sein; ich bringe es jedenfalls nicht über mich, mir das anzutun. Und so vergeht der Auftritt von KANONENFIEBER ohne meine Anwesenheit. Dafür kommen nach dem Konzert gleich drei Leute unabhängig voneinander auf mich zu und ergehen sich in Begeisterung darüber, „wie großartig der Auftritt denn bitte war!“ und es manifestiert sich bei mir der Eindruck, dass KANONENFIEBER viel mehr waren, als nur eine Ersatzband – nämlich ein Highlight.
Die Barbarinnen
Auf der Suche nach einem alkoholischen Durstlöscher laufe ich zufällig einem Bekannten über den Weg, und wir beschließen, den Konsum von berauschenden Genussgetränken in sein Camp zu verlagern. Zunächst völlig ins Gespräch vertieft, fällt mir plötzlich siedend heiß ein, dass ich ja KONVENT sehen wollte! Jetzt aber nichts wie los, zurück aufs Infield und ab in die Halle. KONVENT spielen auf der linken Bühne – gut für mich, so muss ich mich zwischen weniger Menschen hindurchschlängeln. Im Hintergrund hängt ein großes Banner mit dem Logo der Band, welche bereits voll in ihrem Element ist.
Die Growls von Sängerin RIKKE (hatte ich erwähnt, dass KONVENT aus Dänemark stammen?) sind extrem rau und dunkel. Würde man die Augen schließen, man käme nie im Leben darauf, dass es eine Frau ist, die mit ihrem Gesang gerade sämtliche Seelen im Raum bindet. Eine Wahnsinnsstimme, die mich fesselt. Auch der Sound der Instrumente ist unfassbar eindringlich. Vielleicht sollte ich noch sagen, mit welchem Genre wir es hier zu tun haben: KONVENT spielen allerfeinsten Death-Doom-Metal. Nicht umsonst trägt Sängerin RIKKE ein CONAN-Longsleeve – die musikalischen Parallelen sind unverkennbar. Zum Ende des Konzert reißt sie noch einmal den Mikrophonständer wie eine Trophäe in die Höhe. Eine Trophäe, welche die Band mehr als verdient hat. Was für ein geiler Auftritt!
Jahr mit Sommer
Es wurden für das RAGNARÖK 2022 zwei Bands beziehungsweise Künstler angekündigt, bei denen ich mir von Anfang an gesagt habe: „Da möchtest du ganz vorne stehen!“ Auch wenn man hierfür in Kauf nehmen muss, etwas länger vor der Bühne zu campieren. Und einer dieser Auftritte ist nun gekommen: KARG gibt sich die Ehre! Vielen in erster Linie als Sänger von HARAKIRI FOR THE SKY bekannt, betreibt er doch schon länger sein Soloprojekt und liefert uns seit 15 Jahren zuverlässig eine Mischung aus Ambient- und Post-Black-Metal. Für die Liveauftritte hat er eine tatkräftige Band am Start, die in diesem Moment beginnen, mir und den zahlreichen anderen Zuhörern ordentlich was auf die Ohren zu geben.
Da den Songs von KARG stets eine ausgeprägte Vielschichtigkeit innewohnt, ist der Sound leider etwas schwammig und die einzelnen Gitarrenspuren nicht immer so gut herauszuhören. Nichtsdestotrotz kommt die Melodiegewalt der Lieder sehr gut an. Sänger J.J. derweil hat, wie bisher bei allen Live-Auftritten, die ich von ihm gesehen habe, keine Ruhe. Er läuft wie immer kreuz und quer auf der Bühne hin und her.
Anscheinend muss er wohl auch einmal bei der Bühne nebenan vorbeigeschaut, oder zumindest -gebrüllt haben, da diese im Begriff war, noch während des Auftritts von KARG bereits den Soundcheck für die nächste Band zu starten. Das ist natürlich extrem nervig. Ich persönlich bekomme das vor lauter Haaren im Gesicht gar nicht mit, aber es wird mir später von verschiedenen Seiten berichtet. Aus dem Tritt bringt der Vorfall J.J. jedenfalls nicht. Mit höchster Aufmerksamkeit ziehen er und seine Band die Show durch und servieren uns als letzten Song auch noch ein besonderes Schmankerl: „Jahr ohne Sommer“. Oh, wie ich dieses Lied liebe. Allein es endlich einmal live zu hören, war die Warterei vor dem Auftritt wert. Aber bevor ich mich weiter in Schwärmereien ergehe, schnell weiter zur nächsten Band!
Übersteuert
Das sind in diesem Fall die Schotten von SAOR. Wie bei KARG handelt es sich hier ebenfalls um das Soloprojekt eines Künstlers, der nur zwecks Live-Auftritten weitere Bandmitglieder engagiert. Auch SAOR habe ich in der Vergangenheit bereits live gesehen, war aber nicht ganz überzeugt. Wobei das nicht per se an der Musik liegt, im Gegenteil, die finde ich klasse. Aber soundtechnisch ist sie live einfach schwer wiederzugeben. Und zwar spielen SAOR atmosphärischen Folk-/Black-Metal und haben neben zwei Gitarren auch noch eine Geige am Start. Zusätzlich werden gerne Flötentöne eingespielt. Es ist einfach extrem schwer, das alles gescheit abzumischen.
Und so passiert auch heute das, was ich schon bei vergangenen Auftritten erlebt habe: Der Sound übersteuert und wird matschig. Och manno. Dabei machen SAOR echt Stimmung auf der Bühne, und das Konzert ist auch gut besucht. Aber die Akustik müsste einfach um Längen besser sein, um der Brillanz der Lieder gerecht zu werden. Wenigstens die Songauswahl kann mich begeistern, als letztes Lied wird nämlich „Tears of a Nation“ vom Album „Guardians“ (2016) angestimmt. Der Kraft dieser Melodie kann kein Lautsprecher der Welt etwas anhaben! Auf das Konzert gesehen zwar nur ein schwacher Trost, aber immerhin.
So, jetzt aber hurtig nach draußen! Im Vorbeigehen noch einen leckeren Barbarenspieß geschnappt und dann nichts wie hin zu Ticketcontainer und -Zelt vor dem Infield. Schließlich möchte mein Co-Autor ja gebührend in Empfang genommen werden, um sich erstmal erzählen zu lassen, was er vom Festival schon alles verpasst hat. Miiich, wo bleibst du?
Die Ankunft
Mich: Hallo, ich bin der Mich und während alldem war ich noch gar nicht da. Stattdessen brauste ich über Straßen und Wälder, Wiesen und Felder, fünf Stunden mit lauter Musik und lauterer Vorfreude von der Arbeit her aufs Wochenende zu, hoffend – nein, wissend! – dass es sich lohnen würde.
Ich komme an. Kein Parkplatz mehr weit und breit. Beide Parking-Areale voll. Zum Glück habe ich nette Mitcamper, die schon gestern auf dem Campingground Wurzeln und Heringe geschlagen haben, und die sich im angetrunkenen Zustand relativ leicht dazu überreden lassen, meinen ganzen Kram schon mal reinzubringen, während ich auf der Suche nach einer Bleibe für meine vier Räder durch die Gegend gurke. Nach zwanzig Minuten dann die Erlösung: Auf den guten alten Aldi-Parkplatz ist immer Verlass, und ja, das hätte mir auch früher einfallen können. Aber das Schicksal hat mich scheinbar zum richtigen Zeitpunkt an den richtigen Ort geführt. Denn ein bärtiger Mensch namens Alex, den ich noch nie in meinem Leben gesehen habe, verhindert erstmal, dass ich in die komplett falsche Richtung laufe („Festival ist da lang!“) und schenkt mir dann auch noch ein lauwarmes Dosenbier aus den Innentaschen seiner Kutte („Bier?“). Ich werde dich nie vergessen, Alex.
Der barmherzige Sanitäter
Beim Festivaleingang angekommen, erwarten mich bereits Merlin samt hauseigenem Alex, sowie ein Coronatest-Zelt, das in der Sekunde meiner Ankunft (20:01) zusammengeklappt, aufgerollt und weggetragen wird. Öhm, und jetzt? Ohne negativen Test kein Ragnarök, und natürlich habe ich zuhause sowas von nicht daran gedacht, mich darum zu kümmern. Bevor ich mich aber auf die fünfstündige Heimreise machen muss, erbarmt sich einer der Sanitäter, mir einen Last-Minute-Coronatest zu gestatten. Das Resultat ist negativ (puh), meine Stimmung nun aber definitiv positiv. Auf dem Camp erwartet mich die nächste Überraschung: Mein Zelt steht, meine Luftmatratze ist aufgepumpt und sogar meinen Schlafsack hat man fein säuberlich darauf ausgerollt. Ein kleines Tränchen rollt mir die linke Wange hinunter, während ich mich auf den Weg zu meinem ersten Konzert mache.
Sie sind nicht tot zu kriegen
Merlin: Dem grandiosen und überhaupt nicht verplanten Aufschlagen von Mich folgt der Auftritt von einem Urgestein des deutschen Melodic-/ Progressive-Black-Metal. DARK FORTRESS! Ihr erstes Demo „The Rebirth of the Dark Age“ erschien im Jahre 1996, seitdem hat die Band aus Landshut in Niederbayern acht Alben veröffentlicht, das neueste erst 2020. Sie sind also noch aktiv und haben neben Klassikern auch frisches Material mit zum RAGNARÖK gebracht! Was dabei natürlich nicht fehlen darf, ist ihr seit jeher gehegtes und gepflegtes, fein gezeichnetes Corpsepaint – quasi der „signature look“ von DARK FORTRESS.
Musikalisch wandeln die Bleichgesichter auf den Spuren von SATYRICON, EMPEROR und MORBID ANGEL, gespickt mit ein bisschen OPETH. Das höre ich mir doch gerne an, vor allem live, wo die blast beats so richtig ballern. In der Menschenmenge vor der Bühne fliegen die Haare und es nicken die Köpfe. DARK FORTRESS sind roh und laut, aber eben auch melodisch unterwegs. Das macht ihren Auftritt zu einem energischen und gleichzeitig angenehmen Erlebnis. Ich schiele allerdings bereits zur linken Bühne, zu der es mich unaufhaltsam hinzieht, um bei der nächsten Band in vorderster Reihe stehen zu können. Na, wen möchte ich wohl auf keinen Fall verpassen?
Die Kirsche auf der Sahnetorte
DARK TRANQUILLITY natürlich! Wie habe ich mich auf diesen Auftritt gefreut, wie habe ich darauf hingefiebert. Und das, obwohl ich auch DARK TRANQUILLITY schon mehrfach live gesehen habe (unter anderem auf dem RAGNARÖK 2018). Aber daher weiß ich auch, dass sie live einfach Stimmung machen, und wie! Natürlich kommt mir auch zugute, dass ich fast jeden Song kenne, den sie spielen. Gut, sie haben ein paar Klassiker, die halt irgendwie immer auf der Setlist stehen: „Therein“, „Lost in Apathy“ und als letzten Song, wie könnte es anders sein, „Misery’s Crown“. Aber die Schweden geben auch einige Songs aus ihren letzten beiden Alben „Atoma“ (2016) und „Moment“ (2020) zum Besten. Die Auftritte von DARK TRANQUILLITY leben allerdings auch, das muss mal gesagt sein, von dem ausgelassenen Temperament der ganzen Band. Während der Bassist und die Gitarristen sich energische Duelle liefern, kommt Frontman und Sänger MIKAEL STANNE aus dem Grinsen gar nicht mehr heraus. Dieser Typ hat eine Energie, das ist unfassbar.
Und die Energie färbt ab: Der junge Mann neben mir, groß und stämmig von Statur, lässt seine welligen Haare fliegen und wippt mit in einer derartigen Frequenz vor und zurück, dass er dem Moshpit hinter uns glatt den Rang abläuft. Apropos der Moshpit hinter uns… ich hatte vor lauter Corona schon ganz vergessen, wie es sich anfühlt, wenn einem regelmäßig und ungebremst Leute in den Rücken donnern. Da bleibt mir auch mal kurz die Luft weg. Aber das ist der Preis, den man zahlt, wenn man unbedingt vorne stehen möchte. Und irgendwie ist es ja auch schön, wenn der ganze Körper wieder erfüllt ist vom Festivalfeeling – inklusive Blessuren und platten Füßen.
Als sich das Konzert dem Ende neigt, hat sich der Pit dann auch etwas beruhigt und ich kann die neu gewonnene Freiheit meiner Lunge nutzen, um aus vollstem Herzen „Misery’s Crown“ mitzugrölen. MIKAEL STANNE, der es sich ja bei keinem Live-Auftritt nehmen lässt, mit dem Publikum auf Tuchfühlung zu gehen, kommt auch dieses Mal zu uns auf die Absperrung geklettert und macht den letzten Song zu einer einzigen großen Party. Verdammt nochmal, was für ein geiles Konzert! Also ich bleibe dabei: DARK TRANQUILLITY live? Jederzeit und immer gerne wieder!
Rock’n’Roll und Blast Beats
Mich: Und gleich zum Einstieg stehe ich einer norwegischen Legende gegenüber: VREID! Diese Band ist sozusagen der Phönix, der sich aus den eisigen Aschen von WINDIR erhoben hat. Einer Band, ohne die es ein Festival wie dieses wahrscheinlich gar nicht gäbe. Während letztere zu den großen Ahnen des Pagan und Viking Metal gehörten, wurde mir aber zugeflüstert, ihre jetzige Reinkarnation wandere bisweilen in rockigeren Gefilden umher. Falsch ist das nicht – der ein oder andere Song des Abends lehnt sich mit mächtigen Gitarrensoli und stampfenden Beats stark in genannte Musikrichtung hinein, und auch das ROLLING-STONES-Cover „Paint It Black“ lässt keine Zweifel am gewollt erschaffenen Brückenschlag übrig. Doch aus den repetitiven Riffs, den schmerzerfüllten Schreien und den brechenden Blast Beats der meisten Eigenkompositionen sickert eine ebenso große Portion schwarzer Energie heraus und macht den alten Sagen alle Ehre. Als dann irgendwann mit „The Spiritlord“ ein waschechtes WINDIR-Cover angestimmt wird, erkennt man schnell, wer nur deswegen hier ist. Es wehen die Mähnen im Publikum, und wenn ich mich nicht komplett versehe, glitzert zwischendurch sogar die eine oder andere Träne im kaltblauen Aufleuchten der Scheinwerfer.
Die Bass Drum ballert bei dem ganzen Erlebnis aber etwas zu sehr, so dass ich als eben erst Angekommener über Melodienspiel und Feinheiten in der Saitenführung nicht sonderlich viel zu berichten habe. Die generelle Atmosphäre aber ist da – und weiß auch mitzureißen, wer noch nicht im Voraus mit den Liedern bekannt war.
Neue Vocals, neues Glück?
Der Tag ist gekommen, an dem ich die finnischen Folkfreunde von ENSIFERUM zum ersten Mal mit ihrem neuen Clean-Sänger erleben darf! Und ich muss sagen, dass mir seine Stimme live ein gutes Stück weniger auf die Nerven geht als auf Platte. Obwohl ich eigentlich auch ein Freund von Power Metal bin und der Mann definitiv etwas auf dem Kasten hat, hat es bisher zwischen seinen Stimmbändern und meinem Trommelfell noch nicht wirklich klick gemacht. Höchstens gequietscht. Zumindest aber bei diesem Live-Auftritt sind seine Vocals nicht so sehr im Vordergrund, dass sie mich stören würden. Ich würde sogar behaupten, sie führen hier eine angenehme Symbiose mit dem generellen musikalischen Erzeugnissen der Band.
Los geht’s mit zwei neuen Tracks, bevor sich quer durch die Discographie gedudelt wird. „One More Magic Potion“, „Token Of Time“ und „In My Sword I Trust“ sind nur einige der erfreulichen Häppchen, die den Zuhörern heute kredenzt werden. Leider scheitert die musikalische Gourmetreise aber erstmal an einem ungenießbaren Soundgewand! In den ersten paar Minuten besitzt die Bass Drum so viel Durchschlag, dass kaum etwas anderes überhaupt noch im Inneren meines Schädels ankommt. Aber nicht mit mir, ich bin doch ein Profi! Ich verwende meine geheime Technik, die da lautet: Man bewege sich zum Mischpult, denn von da aus mischen die Mischer, also ist der Sound an der Stelle im Saal meistens gut gemischt. Und hey, es klappt! Einigermaßen. Die Drums sind (trotz besserem Soundpegel) auch hier so laut, dass es mir ohne Ohrenschutz die Hirnflüssigkeit aus den Gehörgängen pustet, während ich mit Ohrenschutz Schwierigkeiten habe, zwischen dumpfem Wummern überhaupt einen Ton von Gitarre oder Keyboard zu erhaschen. Ich verkehre also abwechselnd so lange ungeschützt mit der Musik, bis es anfängt wehzutun, und gebe mir dann zum Runterkommen wieder ein paar Minuten unverständliches Gewummer. Wie gesagt, ich bin ein Profi. (Aber mal ehrlich: Es ist nicht zu empfehlen. Macht das nicht zuhause nach.)
Was ihr aber gerne zuhause nachmachen könnt, ist der riesige, nie enden wollende Moshpit, der da in der Mitte des Raumes so konstant am Steilgehen ist. Und ich meine richtig am Steilgehen. Scheinbar sind bei Weitem nicht alle im Raum so mimosenhaft unterwegs wie ich gerade: Die mal treibenden, mal fröhlichen Melodien und Beats lassen das feiernde Volk die Füße schwingen und die Beine benutzen, die Freunde schubsen und die Nachbarn durch die Gegend werfen. Das Konzert ist für viele hier eine einzige große Fete. Und für mich dann spätestens auch, als gegen Ende der Spielzeit „Lai Lai Hei“ angestimmt wird. In dem Moment wird plötzlich mir klar, dass es doch sehr schön ist, ENSIFERUM mal wieder vor mir auf der Bühne zu haben.
Der letzte macht das Licht aus?
Merlin: Sie sind die letzte Band des Abends und zugegebenermaßen ist nach bei mir nach der Eskalation bei ENSIFERUM die Luft auch raus. Aber GOD DETHRONED möchte ich dann doch nicht verpassen. Schließlich habe ich die Blackened-Death-Metaller aus den Niederlanden noch nie live gesehen. Da ich nichtsdestotrotz ziemlich alle bin, beschließe ich, mir ihren Auftritt von der Tribüne aus anzusehen. Es zeigt sich schnell: Trotz der späten Stunde haben die Jungs noch bock, aber so richtig! Der Sound ist so brachial, dass sogar die Tribüne vibriert, ja fast zu wackeln scheint. Das weiße Instrument des Bassisten leuchtet im Licht der sich überschlagenden Scheinwerfer, das große schwarze Kreuz darauf ein Manifest dagegen. Auf seiner Klamotte dreht sich das Farbschema um: Die Kutte schwarz wie Ebenholz, das Kreuz darauf weiß wie Schnee. Fehlt nur noch das Blut. Sänger und Bandgründer HENRI SATTLER derweil hat die beste Laune und befeuert die letzten Reserven im augenscheinlich ganz schön mitgenommenen Publikum. Vielleicht 100 Leute hören und schauen aktiv zu, der Rest hängt mehr oder weniger lebendig auf einer der Tribünenstufen oder schwankt orientierungslos durch die Halle. Die Kraft ist einfach raus für heute. Aber GOD DETHRONED ziehen durch und liefern dem RAGNARÖK eine energiegeladene und auch musikalisch gesehen absolut geile Show ab. Da kann man schonmal klatschen!
So, jetzt bin ich aber auch feddich für heute. Nach so viel Input verspüre ich das dringende Bedürfnis nach Ruhe und Schlaf. Glücklicherweise kommen unsere Campnachbarn nicht auf die Idee, jetzt noch die Kassierer oder die Cantina Band aufzudrehen, und so umhüllt uns eine festivaluntypische, aber von mir gerade sehr geschätzte Stille. So können sich die Gehörgänge etwas entspannen, bevor es dann morgen weitergeht mit der akustischen Penetration. Gute Nacht, bis dahin!
Dieses war der erste Streich, doch der zweite folgt sogleich!
Wie der Samstag aussah, erfahrt ihr alsbald in unserem RAGNARÖK-Bericht Teil 2! Ein großer Dank geht aber bereits an dieser Stelle an Martin Dannehl, dessen fantastische Fotos diesen Bericht illustrieren. Hier geht’s zu seiner Seite: https://www.maddin.org/
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