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Ein Auftritt für die Ewigkeit – FAHNENFLUCHT in Leipzig!

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„Keine Parolen spenden Trost in all dem Dreck“

Wie recht sie doch haben! Und wie sie den Nagel damit auf den Kopf treffen, eben… so wie eigentlich immer! Genau deswegen liebe und schätze ich FAHNENFLUCHT so sehr!

Aber wir fangen vorne an: Es ist Freitag, es ist spät, kalt, dunkel und ich fliege im Auto über Schleichwege quer durch die Stadt um zum Bandhaus in Leipzig zu kommen. Durch eine Verkettung sehr glücklicher Umstände konnte ich hier nämlich einen Zugang zum heutigen Konzert erhalten – noch einmal unendlichen Dank an dieser Stelle! Ich parkte ab, schlüpfte in meine guten alten Stiefel, die schon alles gesehen haben und machte mich auf zum Eingang. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich noch nie vorher im Bandhaus war. An dieser Stelle geht ein klarer Hinweis raus: Seid schlauer als ich, besucht das Bandhaus, es ist großartig!

Es sind oftmals diese kleinen Locations in denen man großartige Konzerte erlebt, oder auch mal die Band sieht, die irgendwann später ganze Hallen füllt. Auf jeden Fall ist der kleine Veranstaltungskeller eine echte Perle, es gibt supernette Leute vor Ort, Flaschenbier für günstige Preise in großer Auswahl und einen kleinen aber feinen Raum für die Konzerte, der einen erstaunlich guten Sound bringt. Ich fühlte mich also sehr schnell heimisch, schloss meinen Rundgang ab und positionierte mich entspannt im Raum vor der Bühne.

„Ich sehe schwarz-rot, aber kein Gold für dieses Land“

Hier läuteten ARRESTED DENIAL aus Hamburg den Abend ein, und das machten sie hervorragend. Die Jungs waren meiner Meinung nach ein herrlicher Opener, nahmen den noch etwas lichten Raum vor der Bühne mit Humor, und schafften es später diesen auch zu füllen. Dabei wurde nicht nur „entspannter“ Punk gespielt, sondern auch die ein oder andere Ska-Note mit angeschlagen und der Trompeter mischte sich gleich mal direkt ins Publikum um von dort zu spielen. Auch mit Ansagen wurde nicht gegeizt und insbesondere der Frontmann zeichnete sich dabei durch einen spitzbübigen Charme aus (tjaaaa, da habe ich ganz tief in Omas Wortschatz gegraben).

Ein TOCOTRONIC-Cover wurde in der Folge als echter Skinhead-Klassiker angekündigt, der einzig deutlich schnellere Song als „für uns fast schon Grindcore“ und außerdem wurde Ansagen-Bullshit-Bingo gespielt. Klassiker wie „seid ihr gut drauf?“ und „ganz schön heiß hier“ unterbrachen als Zwischenrufe in der Folge lachend jede Ansage, und man konnte nicht anders als die Jungs sympathisch zu finden. Nach ca. 40 Minuten war hier dann Schluss und der Grundstein für einen guten Abend gelegt! Empfehlung zum reinhören ist hier „Nationalisten aller Länder“ aus dem die Überschrift ist, und auch „ich hab beschlossen euch zu hassen“.

„Ich glaube immer noch daran, dass sich hier was ändern kann“

Nun folgte eine kleine Pause, ich wagte den abenteuerlichen Weg auf die Toiletten – am Klavier links, und jaaa, da steht wirklich eins wo man es nicht erwartet! Und dann ging es auch schon weiter. Nun waren BEI BEDARF an der Reihe, die in einem späteren Song dann verrieten, dass sie aus Berlin kommen. Mit einer anderen Berliner Punkband teilte sich der Frontmann auf jeden Fall die Haarfarbe, denn die Wuschelmähne erstrahlte in klassischem Farin-Urlaub-Blond. Die Jungs legten einen erfrischend-flotten Deutschpunk aufs Parkett. Auch wenn es genre-typisch an der ein oder anderen Stelle schwer fiel dem Text zu folgen, so waren doch auf jeden Fall sehr sympathische Texte wahrnehmbar. Ein rundherum solider Auftritt, der schon viel Spaß machte, und die letzte Müdigkeit aus dem Publikum vertrieb.

Und auch musikalisch war das Publikum jetzt langsam aufgewärmt und die ein oder andere Runde Pogo wurde getanzt. Schön war hier auch der Spendenaufruf für die Spendendosen für Seapunx und ein weiteres Projekt, die beim Merch aufzufinden waren. Als Anspieltipps für Neugierige würde ich hier klar „keine Zweifel“ nennen, aus dem auch die Überschrift ist. Ansonsten zeigen auch „Dichter & Henker“ und „Freiheit“ den Stil der Band sehr gut. Hier kann man auf jeden Fall auch gut mal reinhören auf den einschlägigen Portalen.

„Wir wollen Hymnen hören“

Auch die Berliner Jungs waren fertig, es wurde wieder umgebaut und so gegen 22:15 starteten dann FAHNENFLUCHT! Jetzt schweifen wir nochmal kurz ab… jeder hat in seiner Familie doch das Familienmitglied, das zu Familienfeiern immer die selben Storys erzählt, und alle nicken das ab? Nunja, ich scheine auch in das Alter zu kommen, denn ich wollte nun davon erzählen, dass der Mini-Oimel vor ziemlich genau 20 Jahren in den weiten des Internets das berüchtigte Bootleg aus Leipzig von FAHNENFLUCHT fand.

Allerdings hatte ich damit auch meinen Review zum vorletzten Album „Weiter Weiter“ begonnen. Nun, dann eben anders: Der Mini-Oimel vor ziemlich genau 20 Jahren lauschte in einem heute nicht mehr existenten Jugendclub einem Konzert von ein paar Jungs auf seiner Schule. Die Combo, die sich SIDESPLITTING nannte, machte – meiner Meinung nach – ziemlich coolen Punk und am Ende coverten die Jungs auch „Zeit bleib stehen“ von DRITTE WAHL und eben auch „Ohne Ausweg“ von FAHNENFLUCHT. Beide Lieder hörte ich an diesem Abend zum ersten Mal, beide Lieder sollte ich nie wieder vergessen.

„Ehrlich schöner scheitern können wir von mir aus auch zusammen“

Seit diesem Abend und vielen Stunden mit ihrer Musik will ich FAHNENFLUCHT live sehen, leider hat es nur einmal auf dem Spirit-Festival geklappt, von viel zu weit weg… aber nie so richtig. Nun ENDLICH sollte es also passieren, und ich war aufgeregt wie damals! Die ersten Töne erklangen, der Sound war klasse, und die Jungs begannen furios! „Schöner Scheitern“, was auch der Opener vom neuen Album ist, kam perfekt in die Meute, die Bierflaschen wurden zur Decke gereckt und die Party wurde gestartet. Es folgte „Staub“ vom neuen Album und danach mit „Schwarzmaler“ und „Willkommen in Deutschland“ zwei ältere Klassiker.

„Meine Welt hat keine Farben, weil ich Schwarzmaler bin“

Was soll ich sagen? Ich war schon jetzt stockheiser. Ich orientierte mich ein wenig weiter nach vorne, hatte perfekte Sicht und herrlichen Sound und intonierte gefühlt einen 100-Mann-Background-Chor ganz alleine. Der Sänger sah nun deutlich fitter aus als ich, und ich genoss jeden Augenblick. Soooo lange hatte ich auf ein solches Konzert gewartet, und es hatte sich gelohnt! Ich würde behaupten über die Jahre so ziemlich jeden Quieks der Band zu kennen, auch wenn sich mein musikalischer Horizont in den 20 Jahren gehörig erweitert hat. FAHNENFLUCHT stellen aber eine Konstante dar!

DAS ist für mich deutscher Punk, so wie ich ihn mir wünsche! Die Band schafft es eigentlich immer, den Nagel auf den Kopf zu treffen, den Finger in die Wunde zu legen, eben genau am Geschehen der Zeit zu liegen und sich dabei textlich weiterzuentwickeln, ohne stilistisch softer zu werden. Und es gibt eben auch diese ganz rabiaten Deutschpunk-Songs bei denen all der Frust des Alltags aus ihnen – und mir – herausplatzt, doch die folgen später.

Ich bin der ganz festen Überzeugung, dass FAHNENFLUCHT die unterrepräsentierteste großartige Band im deutschen Punk sind – und ich würde die Jungs eigentlich gerne auf den größten Bühnen und Festivals sehen, damit ihre Texte und Botschaften sich in tausende, nein zehntausende Köpfe hämmern. Aber heute…. Heute, bin ich einfach nur froh, die Band genau hier im kleinen aber großartigen Bandhaus zu sehen, so nahe vor mir, dass es keine Grenze zwischen Band und Publikum gibt. Die Schwelle zur Bühne ist vielleicht 30cm hoch, es gibt kein Geländer, es gibt kein „die“ auf der Bühne und kein „wir“ vor der Bühne. Es gibt eine wogende Menge, eine Melange aus alltagsgeplagten Menschen, die sich hier zusammen in den bitter-düsteren Texten und derben Melodien wiedererkennen und sich gegenseitig Kraft geben. Und verdammt, ich liebe es!

„ihr seid das Volk, doch ich bin kein Teil von euch“

Es folgen in rasender Geschwindigkeit die nächsten Titel, während ich mitgröhle, im Kopf ein Gerüst für diese Zeilen hier baue und außerdem auch noch die Songs notiere. „Molotov Zitrone“ mit gleichem Namen wie das aktuelle Album, wird gefolgt von einer kleinen Pause zum durchatmen bei „Kollektivschlaf“. Mit „Welt“ und „Kein Teil“ geht es dann aber direkt wieder energiegeladen weiter. Und insbesondere „Kein Teil“ vom vorhergehenden Album ist ein Song, der in den jetzigen Zeiten vermutlich nie an Aktualität verlieren wird.

Die Menge ist richtig gut dabei, viele sind hier textsicher und gehen mit den Songs gut mit und es ist eine großartige Atmosphäre im Raum. Das Publikum ist im übrigen sehr durchmischt. Von kahlrasierten und Iro-tragenden Frauen bis zu vielen Fans meiner Generation, aber auch noch einigen deutlich älteren ist hier alles vertreten. Unter anderem auch ein Vater mit seiner vielleicht 10-12 jährigen Tochter, die ebenfalls mit großer Textsicherheit glänzte. Ihr wurde dann auch die Ansage vor dem Song „Kind“ gewidmet, und hier ist so ein typischer FAHNENFLUCHT Moment für mich. Der Song ist rau, aber der Text geht durch Mark und Bein, erst Recht seit ich selber Kinder habe:

„Ich frag Dich, wie erklärt man einem Kind, dass Menschen Menschen hassen, nur weil sie andersartig sind? Wie erklärt man einem Kind, dass Menschen Menschen töten, wenn der Hass in uns gewinnt?“

Und ja, dass frage ich mich auch des Öfteren. Und in dieser Welt, in der wir aktuell leben, gibt es viele solcher Fragen, aber nur wenige Antworten. Das sind eben genau solche Texte die ich bei der Band immer wieder für alle Lebenslagen finde, und die dann eben doch ganz anders sind, als viele andere Deutschpunk-Inhalte. Hier steckt einfach mehr dahinter, aber trotzdem haut dich die Musik auch zusätzlich aus den Latschen. Eine geniale Mischung!

„Immer so negativ, immer so depressiv“

Ja, verdammt! Denn die Jungs sind einfach ehrlich, und irgendwie ist der Punkt für Durchhalteparolen und „es wird schon“ halt einfach weit überschritten. Aber es geht auch versöhnlicher, denn mit „mit dir okay“ und „härter zusammen“ sind hier zum Beispiel auch 2 Tracks, die den Zusammenhalt und die Unterstützung gegenseitig wertschätzen, was definitiv auch wichtig ist. Aber mit „Wache an der Überlastungsgrenze“, „Bildschirmzeit“, „Trümmer“ und „Zweifel“ wird es dann schon wieder ganz düster, ehe es mit mit „Welcome To Hell“ einen furiosen Abschluss gibt. Abschluss? Von wegen!

„Es geht voran, es ist soweit“

War der Sänger nun in einem mir ähnlichen Zustand, und eine gewisse Verschwitzheit erkennbar, waren aber dennoch die letzten Kräfte für diesen Abschluss aufgespart. Und jetzt, jetzt sollte das passieren, worauf der Punk im Oimel sich schon seit 20 Jahren freute… zum Abschluss gab es nochmal 4 Klassiker der ersten Alben, die einfach nur Kult sind! „es geht voran“ machte den Anfang, und der Autor warf sich hier dann todesmutig in das rüde Geschubse vor der Bühne. Zugegeben, ich spürte die Bewegung und das Gegröhle in Form von Seitenstechen recht schnell, aber das war nun auch egal.

Die Stimme war ebenfalls völlig hinüber, und das was ich im Anschluss noch von mir geben konnte, dürfte sich angehört haben, wie fieseste Tonexperimente der EINSTÜRZENDEN NEUBAUTEN. Das hielt mich nicht davon ab, die restlichen 3 Lieder nun unmittelbar an der Bühnenkante zu verbringen und gefühlt jede Silbe zusammen mit dem Sänger zu intonieren, der nur wenige Zentimeter vor mir stand. Oh wie sehr mich diese Minuten zu „Hausbesetzerlied“ und „Gesox“ glücklich machten! Das wurde nun nur noch gesteigert, als zum Abschluss dann noch DAS Lied kam! „Ohne Ausweg“ ist einfach einer DER deutschen Punk Songs überhaupt und nun war endgültig alles vorbei und ich überglücklich. Die Band sah mindestens so fertig aus wie ich mich fühlte, aber auch mindestens so glücklich!

Fazit?

Klare Sache! Macht es besser als Oimel, denn: Geht ins Bandhaus, was wirklich eine tolle Location ist, die jede Unterstützung verdient! Und geht zu FAHNENFLUCHT, wenn ihr die Gelegenheit habt – erst gestern ist ein neuer Schwung Tourdaten bekannt gegeben worden, es sind also viele Möglichkeiten da. Achja, und wer ARRESTED DENIAL oder BEI BEDARF über den Weg läuft, sollte natürlich auch hier ein Ohr riskieren. Dieser Abend war ein Konzert, auf das ich einfach gewartet habe, und das ich – ohne Übertreibung – niemals vergessen werde! Danke an alle Beteiligten, die solche Sachen veranstalten!

Achja – und natürlich dürften hier die ungewohnt guten Bilder für einen Konzertbesuch von mir aufgefallen sein! Danke dafür an Kerstin Kühne, die mir die Bilder zur Verfügung gestellt hat.


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