Core Classics Spezial #25 – The Dillinger Escape Plan
Hier bekommt ihr eure wöchentliche Dosis an Core-Alben mit Legenden-Status. Viele Vorurteile gegenüber dieser Musikrichtung konnten ja bereits schon ausgelöscht werden. Und genau deswegen gibt es jetzt auch diese Kolumne, denn ich kann sie schreiben und mich danach immer noch auf die Straße trauen!
THE DILLINGER ESCAPE PLAN – Calculating Infinty
Veröffentlichungsdatum: 28.09.1999
Länge: 37:27 Min.
Label: Relapse Records
Die Lichter im gesamten Columbia Theater gingen wieder an, Drumsticks wurden in die Menge geworfen und schon fing die nervige Pausenmusik an zu spielen. Nachdem die letzte Note von „43 % Burnt“ gespielt war, verließen THE DILLINGER ESCAPE PLAN Berlin für immer. Sie haben nicht vor zurückzukehren, es gibt keine undefinierte Pause, einfach nur den Schluss. Da sank mir am vergangenen Freitag, dem 10.02.2017, das Herz doch etwas in die Hose. Zuerst fühlte ich mich am Ende der Show wie paralysiert, schließlich war das meine erste und letzte Chance gewesen die US-Amerikaner live zu erleben. Doch jegliche Hoffnung auf eine Zugabe war schnell dahin und jeder im Saal musste sich mit der bitteren Wahrheit abfinden:
Eine Ära geht zu Ende.
Die Band, die sich darauf verstand, chaotische und emotional fordernde Musik zu machen, ohne eine Mauer aus Geräuschen erzeugen zu müssen. Die Band, die nach dem ersten Staatsfeind der USA benannt ist. Diese Band würde einfach so verschwinden. Doch was bleibt von ihr?
Die überwältigenden Fähigkeiten aller Bandmitglieder konnten nie in Frage gestellt werden. Der Sänger trifft jede Note und hat eine unglaubliche Reichweite in seiner Stimme. Die Gitarristen spielen genauso präzise wie technisch anspruchsvoll und der Schlagzeuger steht ihnen in nichts nach. Selbst wer sie nicht ertragen konnte, weil es zu unmelodisch und brachial klang, respektierte sie dafür, was sie alles konnten. Denn wenn es sich einmal ruhig oder sogar eingängig anhören sollte, wussten meine Lieblinge aus New Jersey wie das erreicht werden kann. Sie erinnern an eine Art Picasso der Musikszene, da sie auch alle Techniken beherrschen, um Kunst zu schaffen, die jeder als ästhetisch und als ein perfektes Replikat der Realität einstuft. Doch sie erfanden sich immer wieder selbst neu und ließen sich von keiner Grenze in irgendeinem Genre aufhalten. Sie drückten den Zuhörer immer weiter in die Ecken seines Musikgeschmacks, in welchen er sich unkomfortabel und manipuliert fühlt. Dort wo Jazz verachtende Metalkenner sich plötzlich völlig neuen Tonlandschaften öffnen, weil ihnen zum ersten Mal die künstlerische Bedeutung dieser offengelegt wird.
Und mit welcher LP begann die lange Reise, deren glorreiches Ende von einem Busunfall verhindert wurde? Das Debüt „Calculating Infinity“ glänzt nicht nur mit dem ikonischen Cover, welches ich – trotz Kurzsichtigkeit – auf zehn Kilometer Entfernung in jedem Plattenladen erkennen würde. Musikalisch wird eine Leistung geboten, die man von einer zwei Jahre jungen Band nicht unbedingt erwartet. Damals spielten die Genies an den Instrumenten noch mit dem ursprünglichen Sänger Dimitri Minakakis, der von seinem Nachfolger in allen Aspekten geschlagen wird. Die berüchtigte Reichweite in der Stimme, sowie die unverwechselbaren Melodien im Refrain von „Milk Lizard“, waren unter Grafik-Designer Dimitri nicht vorstellbar.
Nichtsdestotrotz nahm Ben Weinman schon damals die Taktwechsel und ungewöhnlichen Songstrukturen in die Hand, die sie berühmt machen. Das fällt besonders stark ins Gewicht, wenn ich die ersten Lieder der LP höre. Mit unnachgiebiger Wucht prallt ein Lied nach dem anderen auf mich ein. Da hilft auch keine Aspirin von Mutti, durch das instrumentale Chaos und die unvorhersehbaren Wechsel wird der Kopf immer gefordert. Wem also schon das Aufstehen Kopfschmerzen bereitet, dem sei diese Langspielplatte nicht für den Weg zur Arbeit empfohlen. Um Aggressionen bezüglich der Kunden, der Kollegen oder dem Chef zu verarbeiten genügt es jedoch allemal.
Egal wie erfolgreich Lieder wie „One Of Us Is The Killer“, „Panasonic Youth“ und „Milk Lizard“ sind, keiner von ihnen wird je der Hit der Hits sein. Dieses Sahnehäubchen auf der einzigartigen Diskografie der Gruppe ist das Lied „43% Burnt“. Wer das Riff im Intro nicht erkennt ist raus aus meinem Leben. Das heißt, man sollte Mathcore-Titanen würdigen, ansonsten wird das nichts mit einer engen Beziehung.
„Außer mit dir natürlich Schatz, ich liebe dich.“
Gefolgt wird dieses Lied von „Jim Fear“, welcher Tanzflächenfreunden genauso gut bekannt sein sollte wie „Destro’s Secret“. Es ist, als hätten Metal und Jazz ihr Kind in die nächste Müllverbrennungsanlage geworfen. Dieses Baby der unglücklichen Liebe entkam dann tanzend den Flammen. So ähnlich kann man fast jedes Lied zwischen dem brachialen Opener „Sugar Coated Sour“ und dem mit einem Filmausschnitt endenden „Variations On A Cocktail Dress“ beschreiben.
Fazit:
In der Lawine, die Bands wie BOTCH und CONVERGE losgetreten haben, etablierten sich THE DILLINGER ESCAPE PLAN dank „Calculating Infinity“ schnell als eine der wenigen Nachahmer, die sich auf ihr Werk verstanden. Auf jede der oben genannten Gruppierungen kommen bestimmt jeweils 100 mehr oder weniger gescheiterte Kopien, aber für diese eine erfolgreiche und innovative darunter lebt die Mathcore-Szene auch heute noch. Noch eine Weile gehören die Bühnen dieser Szene auch THE DILLINGER ESCAPE PLAN. So entledigte sich Sänger Greg einst seines Stoffwechselendproduktes in einer Plastiktüte, indem er diese in die Zuschauer schmiss.
Solche Szenen werden sich auf der Abschiedstour wahrscheinlich nicht wiederholen und nachdem sich alle Mitglieder vom Unfall erholt haben, sollte es weitergehen. Es werden noch die verpassten Tourtermine nachgeholt und Wacken mit ihrer Energie beglückt. Dann wird irgendwo sehr bald das letzte Set mit dem folgenden Satz beendet:
Self absorb that utopia so bad, I just feel it. – „43% burnt“
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2 Kommentare
Mich würde ja noch interessieren, was die Pläne der Bandmitglieder für die Zeit nach der Auflösung sind. Ich habe gerade einen Teaser von Relapse Records gesehen, von der Band John Frum, die unter anderem Liam Wilson am Bass und Derek Rydquist (The Faceless) als Sänger haben.
Das ist in der Tat eine gute Frage. Hoffentlich bleiben sie uns irgendwie erhalten (außerhalb von THE BLACK QUEEN)