Core Classics #3 – Norma Jean

Hier bekommt ihr eure wöchentliche Dosis an Metalcore-Alben mit Legenden-Status. Viele Vorurteile gegenüber dieser Musikrichtung konnten ja bereits schon ausgelöscht werden. Und genau deswegen gibt es jetzt auch diese Kolumne, denn ich kann sie schreiben und mich danach immer noch auf die Straße trauen!

NORMA JEAN – Bless The Martyr And Kiss The Child
Veröffentlichungsdatum: 13.08.2002
Länge: 58:25 Min.
Label: Solid State Records

Es gibt Bands, die ihres Namens wegen das ein oder andere Mal mit Großmüttern verwechselt werden. Glaubt ihr nicht? Genauso ging es aber NORMA JEAN bereits und einige der Facebook-Nachrichten, die sie innerhalb der letzten Jahre erhielten, bezogen sich auf Triviales wie die Verpflegung für das nächste Familientreffen. Daran ist die Band auch selbst Schuld, denn der Name wurde in Anlehnung an Marylin Monroes bürgerlichen Namen gewählt. Ich hingegen hätte nichts dagegen, wenn sie auf meinem nächsten Familientreffen aufkreuzen. Denn Trivia hin oder her, die Band ist schon so etwas wie eine großmütterliche, treibende Kraft im Metalcore. Auch wenn heute keines der Gründungsmitglieder übrig ist, wird weiterhin zerstörerische Musik fabriziert.

Heute steht aber das Debüt-Album dieser Band im Fokus. Es zeichnet sich auch durch die fabulöse Produktion durch die Band selbst und Adam Dutkiewicz (KILLSWITCH ENGAGE), einem der wohl bekanntesten Produzenten der Metal-Szene des 21. Jahrhunderts, aus. Es wurden übrigens angeblich keine Computer zur Aufnahme dieses Albums benutzt, um die rohe und unpolierte Atmosphäre der Musik einzufangen. Jedoch hat der musikalische Inhalt noch viel mehr zu bieten, als die Verarbeitung an der Oberfläche.

Ich weiß nicht was es ist, aber die ständig wiederholten Riffs hinterlassen ein großes Verlangen nach mehr. Fast eine ganze Stunde von Gehörgangs-zerschmetternden Gitarren bietet sich dem Hörer. Die dissonanten Gitarren-Intros wie die von „Memphis Will Be Laid to Waste“, „I Used To Hate Cell Phones But Now I Hate Car Accidents“, „The Human Face, Divine“ und „The Shotgun Message“ sorgen für ein kollektives „Nackenhaar-Aufstellen“ bei allen Fans. Auf „Sometimes It’s Our Mistakes That Make for the Greatest Ideas“ lässt man es etwas ruhiger angehen. Mit dieser Post-Rock- und Western-Atmosphäre gönnt man dem Betrachter eine kleine Pause auf diesem Album. Diese vereinzelten Pausen vom chaotischen, verzerrten Gesicht einer Band, das hier gezeichnet wird, sind bitter nötig. Sonst kommt man ja unweit von diesen bohrenden Textpassagen und schmetternden Breakdowns nicht zur Ruhe.

Dabei hilft auch der letzte Song auf dem Album „Organized Beyond Recognition“. Wer auf dieser Platte keine progressiven Mathcore-Töne à la BOTCH hört, dem ist auch nicht mehr zu helfen. Auch das kraftvolle Songwriting sucht seinesgleichen, denn auch wenn es von Breakdowns nur so wimmelt, ist fast jeder dieser Breakdowns legendär. Das sieht man vor allem daran, dass der Anteil der Leute, die die Textzeilen auf einer Show kennen, sich auf – entschuldigt die maßlose Übertreibung – ungefähr 99 Prozent beläuft. „Creating Something Out of Nothing Only to Destroy It“ und „Memphis Will Be Laid to Waste“ gehören hierbei zu den hitverdächtigsten Liedern der gesamten Scheibe. Letzteres wurde mit Unterstützung von MEWITHYOU-Sänger Aaron Weiss aufgenommen und seine wehleidige Stimme passt perfekt in diese emotionsgeladene Nummer. Lasst euch bloß nicht von dem Adjektiv „wehleidig“ abschrecken, denn das ist die einzige Beschreibung, die mir für diesen gefühlvollen und doch punkigen Gesangsstil einfällt.

Das instrumentale und dunkle Intro des 15 Minuten-Epos „Pretty Soon, I Don’t Know What, But Something Is Going to Happen“ zeigt eindrucksvoll, dass die Band die Balance zwischen Songwriting und „Breakdowns-Aneinanderknüppeln“ perfekt hält. In „The Human Face, Divine“ wird das Outro für ähnlich geisterhafte Melodien genutzt. Die klatschenden Hände-Samples und die folgende Death-Metal-Riff- und Schlagzeug-Einlage auf diesem Lied sind mein persönliches Highlight, was songschreiberliche Finessen auf diesem Album angeht.

Your weapons are useless. Drop the gun. Golden gun.
Like bringing a knife to a gun fight. – „Creating Something Out of Nothing, Only to Destroy It“

Trotz der vielen unterschiedlichen Facetten, die jeder Song bei genauerem Zuhören zu bieten hat, eine Sache bleibt immer gleich:
Das Schlagzeug und die verzerrte Stimme von Josh Scogin bahnen sich einen Weg durch das Breakdowngewitter. Einen Weg direkt in die Seele der Zuhörer. Nach diesem Album verließ er jedoch die Band, blieb aber seiner Musik treu und stellte neue bekannte Projekte auf (THE CHARIOT, ’68, Solo-Karriere). Die christlichen Themen, die in den Texten dargestellt werden, gehören aber nicht zu der typischen Predigt, die man von religiös motivierter Musik gewohnt ist. Vielmehr geht es um Selbstreflexion und was man im eigenen Glauben sieht. Die vertonten Themen zwingen dem Verbraucher nichts auf und sind keinesfalls oberflächlich oder einfältig. So weiß man auch nach mehrfachem Lesen nicht, worum es sich im Lied dreht, keine einfache Kost also.

Waltz around the room, with a glaze in your stare.
In your tuxedo suit. I’ll give it a name. Lower
defenses. I’ll lower the casket. Open the door.
Open the grave. Murder. Now you’re doing the waltz with your murderer. – „Memphis Will Be Laid to Waste“

Fazit:


Vergleiche mit ZAO, BOTCH und POISON THE WELL kommen nicht von ungefähr, was die Tragweite des Gesangs und die musikalische Bedeutung für das Genre anbelangt. Mit diesem Album konnten sich NORMA JEAN nicht nur an der Spitze der Metalcore-Bands festsetzen, sondern eindrucksvoll die Verschmelzung von Hardcore und Metal demonstrieren. Für jemanden wie mich, der erst durch das dritte Album „Redeemer“ zu dieser Band gefunden hat, wurde das Debüt schnell zum Favoriten unter den Studio-Ergüssen. Von Anfang bis Ende präsentiert sich dem Hörer ein rundes Gesamtwerk. Außerdem kann ich euch nur empfehlen, auch in das neueste Album „Polar Similiar“(Erscheinungsdatum: 09.09.2016) reinzuhören.

Denn die Basis, die diese Band seit ihrem Debüt ausmacht, ist geblieben und bereichert die Szene bis heute. Und ich entschuldige mich, falls die ein oder andere Stelle nicht so schlüssig klingt. Ich musste diesen Artikel nämlich ohne Kopfhörer und mit dem ZDF-Fernsehgarten im Nacken schreiben. Die HÖHNER zu hören, während man über Math- und Metalcore schreibt, lässt den Geist nicht zu Höchstleistungen auflaufen.


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