DAS ABENDLAND PROJEKT – Poesie und Neoklassik?
Sturmwinds Brennende Flügel
DAS ABENDLAND PROJEKT – “Sturmwinds Brennende Flügel”
Veröffentlichungsdatum: 03.11.2017
Dauer: 70 min
Label: Timezone
Genre: Neoklassik/Poesie
Es gibt Momente im Leben, in denen hält man plötzlich und unerwartet etwas ganz Besonderes in der Hand. Vor einigen Jahren fand ich für wenig Geld bei einem Plattenhändler auf einem Metal-Festival eine CD mit vertonten Gedichten Josephs von Eichendorff. Neugierig und nicht wissend, was mich genau erwarten würde, kaufte ich mir das Exemplar – und ja, es war ganz nett. Die Texte waren schön vorgetragen, begleitet von der einen oder anderen Instrumentalspur, wenn ich mich recht besinne vor allem von Klavier und Violinen.
Ähnlich Schönes, aber Unspektakuläres erwartete ich auch, als ich mich der Aufgabe annahm, mir ein Werk mit dem Namen „Sturmwinds Brennende Flügel“ anzuhören und in einer Review zu behandeln. Doch was da auf mich zukommen sollte, damit hatte ich beim besten Willen nicht gerechnet.
Sturmwinds Brennende Flügel
DAS ABENDLAND PROJEKT – unter dieser Flagge kombinieren Jens Semrau und André Lamijon neoklassische Musik mit gesprochener Poesie. Das kann erstmal vieles bedeuten. Das CD-Cover gibt dazu noch die Namen der vortragenden Sprecher an – fünf an der Zahl – aber auch die sagten mir vorerst nichts. Also setzte ich mich auf dem Weg zur Universität in den Bus, und schaltete das Ding erstmal an, um mir auf der zwanzigminütigen Fahrt schon mal erste Eindrücke davon zu machen.
Und dann kam, worauf ich nicht vorbereitet war:
Ein solch gewaltiger Schwall an musikalischer und emotionaler Energie brach mit den ersten Minuten über mich herein, dass ich meinen Musik-Player fast wieder ausschalten musste. Ein flammendes Zusammenspiel aus orchestraler Epik und Poesie, vorgetragen von professionellen, hochkarätigen Sprechern. Eine intensive Reise durch Gefühle, im Kopf des Hörers evoziert auf großartige, mitreißende Art und Weise – Gänsehaut überkam mich ab den ersten paar Takten, die sich in meinen Ohren abspielten. Ich wusste bisher nicht mal von der Existenz eines solchen Musikkonzeptes. Bei solch meisterhaften orchestralen Parts könnten Bands wie BLIND GUARDIAN oder RHAPSODY OF FIRE echt noch was lernen, und die tiefgehenden, knarrenden Stimmen der ausgewählten männlichen Sprecher wie auch das wohlklingende Organ ihrer alleinigen weiblichen Konsortin erweisen sich als mehr als würdig, diesem Feuerwerk an Klangfarben beizuwohnen.
Dennoch ist Orchesterbombast noch lange nicht alles, was „Sturmwinds Brennende Flügel“ zu bieten hat. Da das Album als Hauptthema die Liebe behandelt, fehlt es auch an romantischeren, ruhigeren Stücken nicht. Streicher und Klaviere kommen neben atmosphärischer Rhythmik viel zum Einsatz. Hierzu gesellt sich eine dritte Art der Lieder: auch die traurige, melancholische Seite dieser Empfindung kommt nicht zu kurz. Dennoch schaffen es die meisten Lieder fast immer, auch ein Gefühl von Wärme und von Hoffnung zu vermitteln.
An dieser Stelle muss auch die wunderbar ineinander aufgehende Interaktion zwischen Text und Musik gelobt werden!
Die breitgefächerte Soundkulisse fungiert bei weitem nicht nur als Untermalung der Gedichte. Noch ist es umgekehrt der Fall – die beiden Seiten stehen in einem ständigen Wechselspiel zueinander. Die Musik ändert sich mit der Stimmung der Texte, und gleichzeitig ist sie es, die ebenjene Stimmung für den Hörer zum einen verstärkt und zum anderen leitet. Eine meisterliche, wahrhaft lebendige Anwendung zweier Kunstarten. Die gefühlvollen Stimmen der Sprecher sind der dritte Faktor, der in diesem Wechselspiel in oberster Liga mitspielt.
Gibt es denn eigentlich auch etwas an dem Ganzen, was ich nicht ungebremst mit tausend km/h in den Himmel lobe? Hm, ja – ich muss sagen, dass mir teilweise die langen Streicherstrecken doch etwas zu viel des Guten sind. Auch wäre es gelogen, zu behaupten, das Werk täte nicht gelegentlich vor Kitsch ein bisschen übersprudeln (was bei einem Leitthema wie der Liebe allerdings auch kaum vermeidbar ist). Weiterhin muss ich noch sagen, dass mir persönlich die abstrakteren Texte etwas besser gefallen als solche mit klar verständlichen Bezugspunkten. Ganz einfach, weil erstere mehr Platz für Interpretation und eigene Gedanken lassen.
Da ich diese Review im Rahmen eines Metal-Magazins schreibe, muss ich eine Frage auf jeden Fall aufwerfen:
Wem unter den Lesern könnte dieses Werk überhaupt zusagen? Nun, ich schätze Fans von Neoromantik, Bands wie DORNENREICH, ALCEST oder anderen gefühlsbetonteren Acts aus der PROPHECY–Ecke könnten auf jeden Fall Gefallen an der Sache finden. Wer auf epische Power-Metal-Symphonien steht, den werden wohl auch eine gute Reihe der Tracks überzeugen. Und ja, für die ganzen Gothic-Liebhaber ist DAS ABENDLAND PROJEKT definitiv auch etwas. Ach was red‘ ich, hört es euch einfach alle an. Es ist ein tolles Konzept. Noch dazu großartig ausgeführt. Viel Spaß!
Autorenbewertung
Vorteile
+ großartige musikalische Atmosphäre
+ meisterliches Zusammenspiel dieser Faktoren
+ mitreißend und berührend
Nachteile
- dem ein oder anderen zuweilen vielleicht zu kitschig
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