„Das war doch jetzt scheiße … oder?“ – Subjektivität und Wahrheit
“Junge, war die Anlage übersteuert. Die Hochtöner haben richtig in den Ohren weh getan. Hast du mitgekriegt, dass die auf der Bühne scheinbar keinen richtigen Monitor-Sound hatten? Und die Melodiegitarre war kompletter Brei. Und dann noch dieses Lichtkonzept! War der farbenblind oder aufm Klo!? Was für Idioten. Könntch besser, definitiv! Wie fandest dus denn eigentlich?”
“Saugeil! War noch ein paar Songs im Pit und dann habe ich mir noch 3 Bier reingezogen! War ein richtig fetter Abend!”
Meine Mama, meine Oma, mein Vater, diverse Schulkameraden und Lehrer pflegten immer wieder eins zu sagen: “Man kanns nie allen Recht machen.” Irgendwer meckert immer.
Und manchmal – ja, manchmal baut man auch selber mal Scheiße. Aber genauso wie man in Höchstform damit rechnen kann, kritisiert zu werden, so kann man auch davon ausgehen, dass es immer den einen oder anderen gibt, der selbst in deinem kompletten Versagen noch etwas finden kann. Warum ist das denn so? Warum kann man der untalentierteste Musiker auf diesem Planeten sein, in einer Rumpelkombo ohne Proberaum und eigene Instrumente spielen und dabei trotzdem noch den einen oder anderen Fan für sich vereinnahmen?
“Geschmack ist ja schließlich subjektiv.”…
… könnte man vermuten. Aber das ist doch zu einfach! Es muss doch einen Punkt geben an dem man sagen darf: Das war jetzt Scheiße! Also nicht: Ich empfand das jetzt ganz subjektiv als schlecht, sondern: “Das war ein totaler Reinfall. Ein Totalschaden. Ein Genickschuss des guten Geschmacks. Die Einäscherung des kulturellen Anspruchs, ein Abgesang auf Niveau und Anspruch, die Grablegung aller eventueller künstlerischen Ambitionen.” Komplette Unfähigkeit und ungewollt schiefe Töne als schlecht zu bewerten, ist doch kein Ausdruck eines subjektiven Geschmacksempfindens, oder?
Der Hundehaufen auf der neuen weißen Couch
Wie so oft kann ich auf diese Fragen, die ich mir – und euch – hier stelle, nicht mit Allgemeingültigkeit antworten. Ich bin ganz subjektiv der Meinung, dass manche Dinge nicht gut sind und einfach nicht schöngeredet werden können. Mag das der Hundehaufen auf der neuen weißen Couch sein oder Geheimratsecken. Oder die Hälfte aller Demos die uns erreichen. Ich habe die leise Vermutung, dass wir dem pädagogischen Duktus entsprechend, jedem Machwerk etwas abgewinnen wollen. Schließlich steckt da ja Arbeit drin und die Ideen dahinter muss man auch berücksichtigen, dann ist das alles auch ein organisatorischer Aufwand und letztlich auch noch ein finanzieller … Blödsinn.
Wenn ein kleines Kind immer wieder auf die heiße Herdplatte fasst oder der Verrückte von der Klippe springt, weil er überzeugt ist, fliegen zu können, applaudieren wir doch auch nicht. Nur weil deine talentfreie Band sich dazu entschließt, Musik aufzunehmen, ohne vorher ein paar hundert Stunden zu üben und dann ein paar Monate ordentliche Songs komponiert, müssen wir noch lange nicht deinen Kopf tätscheln und sagen: “Hast du fein gemacht!”. Nein, deine Platte ist einfach Durchfall und bei all dem Müll, der immer ungehemmter in das Internet geladen wird ist es ein Wunder, dass man überhaupt noch etwas entdeckt, was wirklich gut ist. Aber das darf man so ja nicht sagen.
Aber wenn man jetzt sagt: Ok, es gibt also Dinge, die sind indiskutabel schlecht, dann muss es konsequenter Weise auch Dinge geben, die indiskutabel gut sind. Und da fielen mir sofort zahlreiche Beispiele ein. Man könnte natürlich an dieser Stelle wieder anmerken, dass sowas ja wieder nur subjektiv zu beurteilen ist. Jedoch geht es hier vielmehr um eine Bewertung einer Sache über den eigenen Geschmack hinaus. Um die Charakterstärke zuzugeben, dass Ludovico Einaudi ein Virtuose ist, auch wenn man selbst nur Thrash Metal feiert. Es geht um die Unterscheidung zwischen “Mir gefällt das” und der Erkenntnis, dass die Kunst, auch wenn sie nicht meinem persönlichen Geschmack entspricht, trotzdem gut gemacht ist. Oder eben schlecht, auch wenn es meine Busenfreunde sind!
Ok, das ist schon ziemlich viel verlangt, die Königsdisziplin sozusagen und auch ich ertappe mich immer noch dabei, wie ich Kunst kategorisch ablehne. Dabei verliert man so viel, wenn man nicht auch abseits der gewohnten Pfade stöbert.
Wenn man begonnen hat, sich einen weiteren Blick auf das Thema, das Genre oder den ganzen Kunstbereich anzutrainieren, wenn die Erfahrung dazu kommt, wird man immer mehr lernen, diese Unterscheidung treffen zu können. Wichtig ist dabei auch, dass man seine eigenen Attitüden überwindet. Dann kann man sich irgendwann zurücklehnen und sagen: “Jop, das war scheiße.” Und man kann es ganz befreit sagen, da man es durch Erfahrung nun an Vergleichbarem messen kann. Und man kann auch ein Piano-Konzert besuchen, ohne dass man sich selbst verflucht. Denn mit welchem Instrument Musik interpretiert und komponiert wird, ist letztlich unerheblich und nur weil es keine E-Gitarre ist, muss es noch lange nicht langweilig sein.
Das Expertenurteil
Das gilt natürlich auch für Veranstaltungen, Konzerte … eigentlich generell für jede Lebenssituation und die Einschätzung von Menschen per se. Je mehr Erfahrung wir mit dem Objekt der Betrachtung haben, desto besser lernen wir zu differenzieren. Sollten es zumindest. Und dann können wir urteilen. Wir urteilen subjektiv, klar. Aber nicht jede Einschätzung die man trifft ist als ausschließlich subjektiv zu klassifizieren. Hat man Erfahrung und Kenntnis der Parameter, wird aus einer subjektiven Meinung ein Expertenurteil.
Aber jeder Experte ist wiederum der Erlebnissituation unterworfen. Befinden wir uns also beispielsweise auf einem Konzert, kann es sein, dass jeder Mensch im Publikum einen anderen Eindruck der Situation erhält, abhängig von Standort, Blick, Nachbar, eigenem Empfinden und ganz wichtig: Kenntnis der Songs, persönliche Einstellung zum Interpreten und Vorerfahrung sowie Attitüde. Aber auch wenn man sich denkt: „Verdammt sind die da oben kacke“, sollte der selbsternannte Experte trotzdem in der Lage sein zu filtern. Er sollte feststellen können, was die Veranstaltung bietet und welcher Faktor erst durch die Eigenleistung der Bands hinzukommen.
Die Summe aller Parameter
Ach was erzähle ich hier: Jeder Mensch sollte am Ende in der Lage sein zu folgenden Gedankengängen: Musik kann gut oder schlecht sein. Es spielt keine Rolle, zu welchem Genre eine Musik gehört, gut oder schlecht kann es trotzdem sein. Je mehr Erfahrung man sammelt, desto differenzierter kann man Entscheidungen abwägen und manchmal, wie in der Live-Situation, sollte man gar nicht verabsolutieren ohne alle Parameter in die Gleichung mit einbezogen zu haben.
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2 Kommentare
Das mit dem Über-den-Tellerrand-schauen kann ich so unterschreiben, ich habe auch ein paar Klassik- und Elektrosachen in meiner Sammlung und favorisiere sogar ein, zwei Hip-Hop-Interpreten. Allerdings bin ich dabei selbst nicht aktiv, sondern lasse mich beliefern (man muss nur die richtigen Radiosender kennen 😉 ). Auf ein Pianokonzert gehe ich trotzdem nicht, genauso wie ich auf ein E-Gitarren-Konzert gehen würde, denn ein einzelnes Instrument ist mir zu wenig.
Dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Amen!