Der Power Creep in der Musik und warum VOLBEAT progressiv sind

Als ein einst äußerst interessierter Sammelkartenspieler, zu gut Deutsch: Frauenversteher, kam mir vor einiger Zeit ein absurder Gedanke. Dieser riss mich sogar aus meiner (noch währenden) Pokemon Go-Sucht heraus:

Kann man den „Power Creep“ auf Musik beziehen?

Vorweg möchte ich dazu sagen, dass mir schon nach einer Weile am Notizblock aufgefallen ist, dass dieses, für viele hier ominöse, Etwas nur eingeschränkt Anwendung findet.
Und jetzt genug der Klugscheißerei und auf zum Thema, wo ich meinen Ergüssen noch mehr freien Lauf lasse.
Für diejenigen, denen dieser Begriff nichts sagt, sorge ich erst einmal für Aufklärung mit einer kleinen Definition.


Der „Power Creep“ bedeutet schlichtweg, dass neue Inhalte in einem Spiel die älteren in Stärke und Nutzen überbieten. Damit gibt es einen stetigen Anstieg der Spielgeschwindigkeit, da sich neue Gegenstände und Karten nicht an den vorher implementierten Spielregeln orientieren, sondern logischerweise an den älteren Inhalten.
In der Praxis müssen also Spielmechaniken und -regeln angepasst werden, um diesen Galopp-artigen Zuwachs zu verhindern. Denn letztendlich werden ältere Gegenstände mit Einführung der neuen Übermacht nutzlos und werden in der Ecke liegen gelassen. Es geht immer ums Übertreffen: höher, schneller, weiter und auch länger.


Zum Glück liegt der Grund dafür auf der Hand – die Ursachenforschung ist bereits durch: um ein Spiel am Leben zu erhalten braucht es neue Inhalte. Und um neue Inhalte zu verkaufen brauchen diese einen Anreiz für den Spieler um diese zu kaufen. Sei das durch stärkere Werte oder komplett neue Spielmechaniken.
Insbesondere in kompetitiven Bereichen von Sammelkartenspielen kurz TCGs (Trading Card Games) – wie „Yu-Gi-Oh!“ kommt dies zum Tragen. Und wehe jetzt brüllt nicht jeder Leser sofort „Zeit für ein DU-DU-DU-DUELL!“ in den Bildschirm. Mit jeder neuen Erweiterung, an dessen Verkauf der Hersteller Konami sichtlich interessiert ist, steigt die Kraft von einigen sogenannten „Archetype“, also bestimmten „Fraktionen“ von Karten.
Diese Karten werden dann am häufigsten auf Turnieren gespielt, weil neue stärkere Karten sie nun verstärken. Aber auch komplett neue Kartentypen werden erfunden, mit denen ich eure Gemüter aber erst später belasten will.

 

Der Power Creep in Yu-Gi.-Oh!. Die Karte „Ungeheuerkönig Barbaros“ (rechts) vereint die Effekte und Werte von vier (!) älteren Karten (links).

 

Aber jetzt kommen wir mal zum Punkt und fragen uns:

Was hat das alles mit Musik zu tun?

Wenn wir die Evolution der Rock- und Metal-Genre der letzten Jahre betrachten, fällt uns viel schöner Nachwuchs an allen Stellen auf. Da gibt es den Black-Metaller mit dem Lollipop in der Hand, und ja ich meine dich, Post-Black-Atmospheric-Suicidal-Doom-Metal (oder wie du auch immer heißt)! Und sogar der Djent-Teenie von nebenan schaut in der Musik vorbei. Eins haben sie alle gemeinsam: sie haben alte Formulare genommen und sie überarbeitet, etwas Neues hereingebracht oder fast gänzlich umgeworfen. Damit wollen sie ihre eigene Musik machen und nicht im Einheitsbrei untergehen. Sie sind also innovativer und stärker, was ihre Verkaufszahlen – außer bei den Härtefällen der Experimental-, Brutal- und Avantgarde-Musik – anhebt.
Der Unterschied zum traditionellen „Power Creep“ besteht hier jedoch darin, dass diese Musik (hoffentlich) nicht gemacht wurde um möglichst viel Geld einzuspielen, sondern einfach nur um Publikum und das Symphonie-Orchester selbst zu begeistern.

Dabei stellt sich die Frage, ob Innovation in der Musik wirklich Progressivität bedeutet.

Der Prog-Elite gehts nur darum, wer den Längsten hat…

Ich würde vom Bauchgefühl diese Frage mit „ja“ beantworten.
Bands wie CATTLE DECAPITATION, LETLIVE., DEVIN TOWNSEND PROJECT und KVELERTAK wird man trotzdem nicht in ein Genre namens Prog stecken können. Das liegt vor allem daran, dass aus irgendeinem, mir nicht erfindlichen, Grund progressive Musik fast nur noch mit Technik, Länge des Songs und dem etablierten Prog-Rock Sound der längst vergangenen Tage von DDR und dem Grunge verbunden wird.
Wenn Genres verbunden werden (KVELERTAK) oder eine Änderung erfahren (CATTLE DECAPITATION), dann ist das meiner Meinung nach sogar progressiver als Prog-Musik mit theatralischen Ergüssen (DEVIN TOWNSEND PROJECT). Eigentlich wäre sogar VOLBEAT progressiv für ihre Schöpfung von Country-Metal, aber dafür ist die musikalische Elite zu versnobt.

Was ihr euch jetzt bestimmt fragt: VOLBEAT soll progressiv sein, was hat das jetzt alles mit Kartenspielen zu tun und warum liegt hier überhaupt Stroh?

Ganz einfach: Bringst du neues Stroh neue Mechaniken in dein Spiel, dann werden die Karten wahrscheinlich die Überhand gewinnen. Denn die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass sie stärker sind als vorangegangene Kartentypen.
So gab es in „Yu-Gi-Oh!“ einst die Einführung der Fusionsmonster, die vorerst die Meta (spielbare und turnierfähige Decks, das beste der besten) bereicherten und dann schnell als wichtigste Spielmechanik ersetzten. Das bedeutete, dass viele Decks auf diese „Fusionsmonster“ setzten und die Meta voll von diesen Decks war. Allerdings war diese Änderung nicht so schwerwiegend, wie die der Einführung von „Synchromonstern“ und später „XYZ-Monstern“, welche noch schneller zu Favoriten der Spielern wurden, da diese noch einfacher aufzurufen waren. Mit den „Pendelmonstern“ wagte „Yu-Gi-Oh!“ vor einiger Zeit den nächsten Schritt und die Auswirkungen der Einführung der neuen Karten scheinen insgesamt exponentiell gestiegen zu sein. Jede neue Veränderung war immer gravierender als die vorangegangene.

Von links nach rechts: Fusionsmonster, Synchromonster, XYZ-Monster (alle durch eine jeweils andere Kartenfarbe gekennzeichnet)

So sind zum Beispiel die Effekt-Texte zehntausend Mal länger und damit schwieriger zu entziffern – zum Leid der „Casuals“- und das Spiel wird immer schneller. Duelle werden viel schneller entschieden und Spannung kommt schon oft nach sechs Zügen auf, da die Aufgabe einer der beiden Duellanten erwartet wird. Im kompetitiven Bereich sorgen die Erfindungen des Herstellers also für Frustration und viele Spieler verlassen das Spiel. Dieses Phänomen konnte bei „Yu-Gi-Oh!“ schon oft festgestellt werden. So gibt es kaum noch Spieler auf großen Turnieren, die seit langer Zeit dabei waren.

„Zaborg der Mega-Monarch“ (links) neben seinem Vorfahren „Zaborg der Donnermonarch“ (rechts) Kartenwerte, sowie Effekte sind erheblich mehr bei der neueren Karte.

Und auch die Online-Gemeinschaft verliert schneller Mitglieder als sie dazugewinnt. (In anderen Sammelkartenspielen wie z. Bsp. „Magic The Gathering“ werden Ressourcen anders verwaltet und der „Power Creep“ kommt weniger zum Tragen.)


Damit will ich nicht sagen, dass die Musik durch den Power Creep stirbt. Ganz im Gegenteil: Dieser Vergleich zeigt auf, dass durch die Anzahl der Faktoren in der Musikindustrie ein Dilemma wie Eintönigkeit durch einen Hersteller nicht möglich ist. Der Hersteller in der Musik ist der Fan populärer Musik und es gibt genügend Fans innovativer Musik, um diese am Leben zu erhalten.


Außerhalb der vorhin angesprochenen Innovation gibt es natürlich auch noch die ein oder andere Art der „Power Creep“-Verwirklichung: Schneller, härter, intensiver, tiefer. Diese vier Worte sollen keine sexuelle Anspielung sein, obwohl sie, wenn ich es mir recht überlege, eine zweite Kolumne zum Vergleich von Musik und Sex verlangen.
Sie bilden ein flexibles Tetragon, was ich liebevoll das „SHIT-Prinzip“ nenne. Mit dem Namen kommen wir den Fäkalien ziemlich nah, die die Bands der vertretenden Musikrichtungen zu bieten haben. Vom Goregrind bis zum Brutal-Slam-Metal ziehen viele Bands meistens zwei der Faktoren den anderen vor. Ähnlich wie im Kartenspiel wird hier also alles einfach nur krasser und stärker. Sie sind die typischen neuen Inhalte, die sich zwar alter Spielmechaniken bedienen, aber einfach stärker (nicht unbedingt besser) sind als ihre Vorgänger.

So könnte ein solches Tetragon aussehen.

Und was heißt das jetzt genau? Es heißt, dass die Musik heutzutage vielleicht mehr und immer mehr von ALLEM braucht um zu überzeugen. Das liegt hauptsächlich an der Anzahl von Inhalten die bereits auf dem Markt sind, da diese von extremen und experimentellen Bands übertrumpft werden wollen.

Also versucht die ein oder andere neu-gegründete Extreme Metal-Band brutaler zu sein, oder aufzufallen durch:

Was bedeutet der „Music Creep“ – Vorsicht Wortneuschöpfung!- also für aufstrebende Bands?
Es gilt aufzufallen, sei es durch PR, Innovation oder Extreme.
Denn hier wird nicht der Markt vom Hersteller kontrolliert sondern von dem liebenswerten Konsumenten (euch!) und man muss sich anstrengen, um alte Formulare neu zu schreiben oder einfach gut umzusetzen.
Altes Material muss überholt werden. Meistens hat fast jeder Hörer schon ein mal das Gefühl gehabt, lieber ein ihm bereits gut bekanntes Werk zu hören, als der zehnte Versuch dieses zu imitieren und sich den selben Stil anzueignen.

Album-Cover von EXIMPERITUSERQETHHZEBIBSIPTUGAKKATHSULWELIARZAXULUM (wer das Logo entziffern kann, darf sich bei mir melden und gut bezahlt nachts Mücken abschießen bevor sie in mein Zimmer fliegen)

Wenn wir mit dieser Betrachtung abschließen, geht’s auf in die Verkaufszahlen.
Da haben wir an erster Stelle eine erdrückende Beweislage gegen Label vorzuweisen, da die ja immer daran interessiert sind, sich die besten Bands zu sichern, mit denen Geld verdient werden kann. Wer ihnen vorwirft, dass sie daran Schuld sind, dass der Kommerz gewinnt, liegt aber falsch. Am Ende entscheidet ja jeder Seppel selbst, was sein Geld verdient.

Und das ist nun mal äußerst häufig die populäre Musik.

Es ist leider komplett umgekehrt wie bei den Spielen: Nicht Innovation oder neue Stärke wird vom durchschnittlichen Zuhörer belohnt, sondern oft Genre-Mittelmaß oder eben die zehnte Auflage eines typischen Bro-Metal Albums à la Five Finger Death Punch oder die hundertste Metalcore-Sülze aus dem Amiland. Eingängigkeit ist angesagt, aber muss die immer so eintönig und recyclet daher kommen?
Es gibt genügend Bands wie GOJIRA, PERIPHERY, PROTEST THE HERO, GHOST und viele mehr, die beweisen, dass man in Rock und Metal „catchy“ und „softer“ schreiben kann und sich nicht der Masse anpassen muss.

Versteht mich bitte nicht falsch, aber ich wünschte mir, dass auch die Musik sich den „Power Creep“ vollständig aneignen könnte. Aber dafür können neue und alte Musik zu gut koexistieren und stehen nicht so stark in Konkurrenz zueinander. Denn schließlich kann man in der Musik nicht mit Innovation gegen Repetition „das Duell gewinnen“, wie im Kartenspiel mit neueren gegen ältere Karten.

Letztendlich entscheidet jeder Hörer selbst wozu er mosht und das ist auch gut so.


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