Entartete Musik oder „Der Reiz des Unhörbaren“

Viele von Euch haben Alex‘ Kolumne zur Entdeckung unbekannter Bands gelesen und zu dem, was es mit einem machen kann. Natürlich ist das auch an mir nicht vorbeigegangen.
Ich stellte mir die Frage, wann oder warum Musik mich reizt. Und vor allem welche.

Dazu muss ich ’n bisschen weiter ausholen.

Meine musikalische (heißt hier: metallische) Entwicklung zog mich zunächst immer in melodische Gefilde. AMON AMARTH, CHILDREN OF BODOM, DARK TRANQUILLITY… Die ersten Jahre meiner neu entdeckten Metal-Affinität verbrachte ich damit, immer nach geilen Melodien Ausschau zu halten, weswegen vor allem Melodic Death Metal und gut gemachter Metalcore ganz oben auf meiner Prioritätenliste standen. Von Bands wie BLOODBATH oder CANNIBAL CORPSE, die mir damals noch zu krass waren, hielt ich mich fern. Vorerst.

Aus heutiger Sicht ergeben die Dinge für mich durchweg Sinn. Von radiotauglicher Musik hatte ich mich (für einige Jahre) spätestens an dem Punkt entfernt, als ich das erste Mal „B.Y.O.B.“ von SYSTEM OF A DOWN oder irgendwas Vergleichbares gehört hatte. Also lag der Schluss nur nahe, dass ich mich über die Jahre hinweg immer mehr von für die Allgemeinheit hörbarer Musik verabschieden sollte. Wobei sich Allgemeinheit bald auch auf die Metalhörerschaft bezog. Meiner Meinung nach sind z.B. AMON AMARTH und CHILDREN OF BODOM mittlerweile die Pop-Giganten innerhalb des Metals und damit auch schon irgendwie Mainstream. Mich zog es dagegen maelstromartig weiter in Richtung Abgrund, der eine unbeschreibliche Faszination auf mich ausübte.

Hörbarkeit stellte für mich bald kein Kriterium mehr dar, um Musik gut zu finden – im Gegenteil. Attestierte Unhörbarkeit weckt mein Interesse an einer Band, einem Stil oder einem Künstler heute eher als viele andere Kriterien.

„Echt geil, die neue Paroxsizhem Platte!“

Doch warum ist das so?

Ich gucke mir keine hässlichen Sachen solange an, bis ich sie schön finde. Oder esse solange Kram, der mir nicht schmeckt, bis es geil ist. Warum also ist das bei Musik anders?

Ich glaube, in meinem Fall ist es schlicht die Suche nach Neuem, nach Dingen, die noch nicht, oder noch nicht SO gemacht wurden. Ich hab ’ne relativ kurze Aufmerksamkeitsspa- Oh mein Gott, ein blaues Auto! Wo war ich?

Selbst wenn eine Band durchweg auf gleichbleibendem Niveau gutes Zeug veröffentlicht, sinkt mein Interesse dabei kontinuierlich, da ich dieses Niveau ja bereits gewohnt bin und alles, was kommt, so oder so ähnlich schonmal gehört habe. Siehe besagte Pop-Giganten. Diese Bands oder Alben müssen dabei objektiv betrachtet keinesfalls schlecht sein, sie reizen mich persönlich nur nicht mehr. Wie, wenn einem eine Tasse Kaffee am Morgen irgendwann nicht mehr reicht und man so die Dosis langsam weiter steigern muss. So geht es mir mit Musik. Mein Hirn siebt alles aus, was ihm bereits bekannt ist, und erst, wenn mal irgendwas durchkommt, was ich so noch nicht kenne, schlagen die Rezeptoren Alarm und Glückshormone werden durch die Blutbahn gedroschen. Das sind die Momente, in denen es spannend wird.

Und anscheinend geht es nicht nur mir so. Ich habe das Gefühl, dass auch der Markt für Krach deutlich breiter und komplexer geworden ist. Man denke an Bands wie SUNN O))), die mittlerweile sogar vom Feuilleton beachtet werden. Wobei ich mich frage, ob das nur wie im Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ abläuft und alle „Ah“ und „Oh“ schreien, um sich nicht zu blamieren oder ob die Schreiberlinge wirklich verstehen, was da abgeht.

{Die GEMA war da… kein Video mehr… Man man man}

 

Heute noch wirklich etwas Krasses zu machen, das auffällt und heraussticht, ist ziemlich schwierig. Die Gründe sind vielfältig und uns allen bekannt. Überflutung des Marktes mit zu vielen Bands bei zu wenig Qualität. Gleichzeitig gibt es auch Bands, die schon seit gefühlten Äonen Krach machen. MELVINS, EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN und SWANS sind hier nur einige Namen. Und diese Bands halten sich bis heute! Ist die Flucht in experimentelle und ungewohnte Gefilde also die einzige Rettung?

Selbst im Laufe des 20ten Jahrhunderts wurde die klassische Musik irgendwann einfach aufgebrochen, indem versucht wurde, außerhalb der bekannten Pfade zu wandeln. Hörbar waren die Ergebnisse dabei nicht immer, spannend aber auf jeden Fall. Und vielleicht geht es gerade darum: Pionierarbeit abseits der bekannten Routen zu leisten.

Was ich dabei stets mit Wonne feststelle ist, dass die Genres am Rand immer weiter ausfransen.

Allerdings gibt es auch hier unterschiedliche Herangehensweisen. Manche Band wendet sich scheinbar völlig von Tonalität ab. Nehmen wir zum Beispiel die australischen Experimental Death Metaller von PORTAL. Selbst für Death Metal unfassbar unverständlicher Gesang, vermummte Bandmitglieder, sägende Gitarren, die permanent dissonant gegeneinander arbeiten, ein wütendes, chaotisches Schlagzeug. Kostprobe gefällig? Checkt Profound Lore für mehr.

 

Andere Künstler integrieren Instrumente und moderne Elemente in ihren Sound, die vielleicht unpassend wirken. Über FALLUJAH habe ich dabei schon geschrieben, ansonsten würde ich THE ALGORITHM empfehlen.

Wieder andere stellen technische Finesse an oberste Stelle und versuchen so, die bekannten Grenzen zu sprengen. Dabei ist das Höher-Schneller-Weiter-Prinzip vermutlich bald ausgereizt.

 

Ich selbst halte Entwicklung für unverzichtbar. Mancher mag das anders sehen, und das ist auch vollkommen legitim, jedoch war ich nie ein Freund von Retrobands und Künstlern, die die gleiche Platte 80-mal hintereinander machen und ihre mangelnde Kreativität und Stagnation dann als Kult oder Trademark verkaufen. Ich hab sämtliche musikalische Engstirnigkeit abgelegt und freue mich über jede neue, noch so kranke Idee. Vielleicht müssen sich die Ohren erstmal an das Neue gewöhnen, vielleicht braucht es Arbeit, sich in den Sound einzufinden, doch das ist es in der Regel wert. Ich denke, dass es für den Künstler eine größere Ehrung seines Schaffens ist, wenn man als Hörer sagen kann: „In euren Sound musste ich mich erstmal reinfinden, aber dann war’s geil!“, als wenn die Aussage lautet: „Ich wusste nach der ersten Strophe des ersten Songs schon, wie der Rest der Platte klingt.“

Da sich viele Leser weitere Beiträge über unbekanntere Bands gewünscht haben, werde ich in Zukunft mein Bestes tun, um Euch regelmäßig kleinere, aber feine Krachkapellen näherzubringen. Ob ihr die dann hören könnt und geil findet, liegt an Euch. Viel Spaß dabei. =)


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