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Flucht nach vorn – THE HIRSCH EFFEKT im Interview

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Kollege Luc attestiert im kürzlich erschienenen Review zur neuen Platte „Eskapist“ von THE HIRSCH EFFEKT, das auch der neuste Streich der Hannoveraner mehr als nur gelungen ist. Im folgenden Gespräch mit Gitarrist, Sänger und Texter Nils erfahren wir mehr über die Hintergründe zur Entstehung des Albums, gehen tiefer auf die textliche Ebene ein und wagen einen Blick in die Zukunft. Babdadada – here we go!

 

Mit Kraft und Virtuosität

S.: Hallo Nils. Glückwunsch zum Release von „Eskapist“! Es freut mich sehr, dir ein paar Fragen zu eurem neuen „Baby“ stellen zu können. Wie ich mitbekommen habe, wurde das Album bereits in vielen Print- wie auch Onlinemedien besprochen und kam fast einheitlich sehr gut an. Unsere Review bildet da keine Ausnahme. Wie schaut es bei euch aus? Seid ihr hundertprozentig zufrieden mit der Platte und der Promotion oder gibt es Dinge, die sich letztendlich anders entwickelten als sie geplant waren?

Nils: Hi Oli. Wir sind auf jeden Fall mit der Platte zufrieden. Hundertprozentig zufrieden ist man glaube ich nie. Was das Songmaterial und die Aufnahmen angeht, sind wir jedoch jedoch wirklich sehr glücklich mit dem Endprodukt. Beim Songwriting müssen wir irgendwann einfach sagen: „Das ist jetzt gut so wie es ist.“ Hundert Prozent ist da kein wirklich greifbares Ziel. Bei den Aufnahmen hatten wir dieses Mal viel mehr Zeit, da wir viel im Homerecording vorbereitet hatten. Es gibt im Nachhinein immer ein paar Stellen, die ich vielleicht doch noch einmal etwas anders machen würde, aber das sind nur Kleinigkeiten.

Auch mit der Promotion und dem Pressefeedback bin ich sehr zufrieden. Probleme gab es leider mit ein paar Handelspartnern, mit denen unser Label zusammenarbeitet. Dazu haben wir uns via Facebook geäußert. (Anmerkung der Redaktion: Es scheint bei einigen Vertriebswegen zu Lieferverzögerungen gekommen zu sein.)

S.: In eurem „Kaffeekränzchen“-Stream auf Facebook am Veröffentlichungstag (18.08.2017) habt ihr ein interessantes neues Shirtmotiv vorgestellt, auf dem ihr drei Musiker vom bösen Hirschwesen geknechtet werdet. Ist dies der Hirsch Effekt oder warum ist der Hirsch so böse?

Nils: Das hast du gut erkannt. Wir hatten es im Stream glaube ich auch erklärt. Die Idee ist tätsächlich, das wir uns manchmal so fühlen, das uns der Hirsch knechtet und durch die Gegend schleift, da wir nebenbei ja noch unseren Lebensunterhalt verdienen müssen. Das wird manchmal ganz schön hart. Deshalb fanden wir es witzig, das mal so auf einem T-Shirt darzustellen und nebenbei ist es ja auch ein ganz cooles „Metal-Motiv“.

S.: Euer neues Album wurde in den „Off the Road Studios“ zu Leipzig aufgenommen. In besagtem Studio habt ihr schon eine gelungene Liveversion von „Agnosie“ aufgenommen, welche durch die herrliche Anmoderation von Axel Thielmann veredelt wurde. Was hat euch am Studio überzeugt? Bot das Ambiente die optimale Arbeitsatmosphäre um „Eskapist“ den richtigen Klang zu verpassen?

Nils: In den „Off the Road Studios“ haben wir nur das Schlagzeug aufgenommen. Dies ist ein Studio von einem Kumpel von uns und dort hat man eine gute Atmosphäre und einen sehr geilen Raum, um das Schlagzeug auf Band zu bringen. Der Raum ist groß und hatte eine wunderbare Akustik.

S.: Ich empfinde euer neues Werk als das bislang Härteste von euch. Wie kam es dazu? War diese Ausrichtung geplant oder ergab sie sich organisch aus dem Songwritingprozess?

Nils: Bei der Einschätzung, ob es unser härtestes Werk ist, gehen die Meinungen ein wenig auseinander. Heute etwa habe ich von jemandem gelesen, die Platte sei zu poppig. Er schien recht unzufrieden mit dem Album gewesen zu sein. 😉

Ich empfinde „Eskapist“ auch als unser härtestes Album. Wir versuchen uns immer ein wenig zu pushen. Speziell ein Song wie „Aldebaran“ ist schon ziemlich virtuos dargeboten. Wir haben dieses Mal auch vermehrt tiefer gestimmte Gitarren benutzt, was den Eindruck der Härte natürlich noch verstärkt. Ich habe versucht, mich in diesem Bereich ein wenig weiterzuentwickeln.

S.: Von Anfang habt ihr stets mit vielen Instrumenten experimentiert und immer wieder auch klassische Elemente in euren Klangkosmos integriert. Fallen dir Instrumente ein, die ihr unbedingt in zukünftigen Werken noch verwenden wollt?

Nils: Mir fällt tatsächlich gerade gar kein Instrument ein. Ich wollte Harfe sagen, aber Harfe hatten wir auch schon einmal.

 

 

Moderne Auswüchse

S.: Im Folgenden möchte ich vor allem auf die textliche Komponente eingehen. Mein Eindruck ist, dass eure Alben bis jetzt immer von einer gewissen Gesellschaftskritik durchzogen waren, diese jedoch beim aktuellen Album deutlich offensichtlicher zu Tage tritt. „Flucht“ in all seinen Facetten spielt eine zentrale Rolle auf „Eskapist“ und ist in der globalen wie auch nationalen Politik der letzten Jahre ein bestimmendes Thema gewesen. Welchen Beitrag möchtet ihr mit eurer Sichtweise leisten und wie siehst du grundsätzlich den aktuellen politischen Dialog?

Nils: Ich gebe dir Recht, was die textliche Ausrichtung, beziehungsweise den Fokus angeht. Das hat einfach etwas damit zu tun, das ich als hauptsächlicher Texter privat ein wenig gesetzter bin und speziell das Thema der Flüchtlingswelle mein Gefühl der politischen Wahrnehmung verändert hat. Es bewegen sich halt irgendwie viele Dinge in diesem Land. Das sich die Gesellschaft immer mehr spaltet und die Meinungen so stark auseinander gehen, das nehme ich speziell seit 2015 deutlich stärker wahr. Das hat mich bewegt.

Wir als Band möchten niemanden sagen, wie er denken soll. Natürlich möchten wir durch unser Schaffen unsere Meinung kundtun und ein Statement setzen. Uns ist bewusst, das wir uns damit sicher auch von gewissen Leuten abgrenzen und diese wiederum nicht mit unserer Musik erreichen. Das ist uns klar. Wir sind aber auch keine Politiker und möchten niemanden von politischen Meinungen überzeugen.

Den allgemeinen politischen Dialog sehe ich momentan als schwierig an. Ich hoffe, dass wir ein paar Leute zum Nachdenken bringen, die vorher noch nicht über diese Themen nachgedacht haben.

S.: Meine Sicht auf das Album ist, dass ihr ein gut ausbalanciertes Wechselspiel aus persönlichen Sichtweisen, fragmentieren Eindrücken von Betroffenen einer „Flucht“ und teils auch sehr direkter Kritik an verschiedenen politischen Strömungen aufzeigt. Mal schaffen es eure Texte, sich empathisch in Geflüchtete hineinzuversetzen, mal zeigt ihr den Wahnsinn und Stumpfsinn gewisser Ideologien auf. Wolltet ihr eine ganz unmissverständliche Botschaft in euren neuen Songs präsentieren oder einfach gewisse Thematiken mehr in den öffentlichen Diskurs stellen?

Nils: Du hast es mit der Frage ganz gut getroffen. Wir möchten aufzeigen das uns die Thematik bewegt und sie damit weiter in den öffentlichen Diskurs stellen. Wie in der vorherigen Antwort angesprochen, ist uns aber bewusst, das wir höchstwahrscheinlich gewisse Leute nicht erreichen werden.

Im Kern wollten wir ein Statement setzen. Es ist jedoch, wie ich denke, genug Interpretationsspielraum in den Texten vorhanden.

S.: „Xenophotopia“ als Name für den zweiten Song der Platte stellt eine interessante Wortneuschöpfung dar. Ist dies eine dystopische Vision? Das „-phob“ im Begriff deutet, neben der feindlichen Haltung, auch einen Angstzustand an. Denkst du, dass Angst ein wichtiger Bestandteil von Feindlichkeit ist? Egal ob gegenüber Fremden, Homosexuellen, etc… ?

Nils: Ich merke, du hast dich damit auseinander gesetzt, kannst dir aber, denke ich, die Frage schon fast selbst beantworten. Ja, ich denke Angst ist ein wichtiger Bestandteil von Feindlichkeit. „Xenophotopia“ beschreibt für mich, das es Kreise gibt, und das war mir vorher gar nicht so klar, wo Fremdenfeindlichkeit heutzutage gut möglich und gesellschaftsfähig ist. Quasi das Utopia für Fremdenfeindlichkeit.

S.: Im Lied „Natans“ kommt eine Stelle vor, die mich sehr berührt hat. „Und keiner sucht es sich, dieses Fleckchen, wo es losgeht und was man schon mit sich trägt. Denkst du nicht manchmal auch, welch ein Segen hier im Trockenen? Ebenso könnte es deine Havarie sein.“ Denkst du, wir sitzen als Menschheit alle kollektiv in einem Boot und müssen unsere Probleme global lösen?

Nils: Das wir als Menschen alle in einem Boot sitzen, denke ich nicht. Das war mit der Zitataussage auch nicht gemeint. Die simple Grundaussage war, das man es sich nicht aussucht, wo man anfängt. Keiner hat irgendwie das größere Anrecht irgendwo zu leben, bloß weil er da geboren wurde. Keiner hat etwas für seine Geburt an diesem Ort getan. Das ist meine grundsätzliche Einstellung zum Nationalismus.

Eine weitere Aussage, die damit einhergeht, ist, das ich finde, dass es ein verdammt großes Glück ist, in Deutschland geboren zu sein. Das heißt nicht, dass ich Deutschland als das schönste Land der Welt betrachte oder darauf stolz bin. Ich empfinde es aber als großes Glück und Privileg, für das ich nichts getan habe und das ich genauso viel oder wenig verdient habe wie jeder Andere auch, der in einem Land geboren ist, wo man sicher auf die Straße gehen kann. Da haben wir einfach großes Glück gehabt.

 

Wachkoma

S.: Weiter geht es mit einem Zitat aus „Berceuse“ : „Warum kommt es mir so vor, als ob die halbe Welt einfach Schafe zählt?“ Ich persönlich sehe auch viele, viele Probleme in der Welt, engagiere mich aktiv, fühle aber dennoch manchmal eine große Ohnmacht. Was denkst du, kann man tun und wo siehst du deine Aufgaben im gesellschaftlichen Bereich?

Nils: Ich bin da eventuell hilfloser als du, da du schreibst, das du dich engagierst. Ich habe mich im Text auch teilweise selbst beschrieben. Mich lähmt zum Teil die Vorstellung, was alles noch passieren könnte und was man machen kann. Ich beobachte dabei, dass ich gedanklich abschalte, bildlich und auch ganz wortwörtlich gesprochen von der ARD Mediathek zu Netflix wechsle.

S.: Kollege Luc beschreibt im Albumreview, dass ihr im Song „Aldebaran“ das Reichsbürgertum auf die Schippe nehmt. Wie kamt ihr zu dieser Thematik und wie habt ihr recherchiert? Was hältst du allgemein von Verschwörungsthesen? Chemtrails und Wirtschaftsverschwörungen werden im Lied ja auch kurz benannt.

Nils: Ich habe über das Internet recherchiert und mir bei Youtube viele Dokumentationen zu den Thematiken angeschaut. Ich habe dazu jetzt aber auch keine wissenschaftliche Arbeit gelesen, geschweige denn verfasst. Das waren alles Recherchen, die jeder Andere auch machen kann.

Von Verschwörungsthesen halten wir nicht so viel. In meiner Recherche glaube ich verstanden zu haben, dass hinter Verschwörungstheorien häufig Brüche in der eigenen Biographie stecken. Hinzu kommt, das manche Leute dadurch das Gefühl haben, erleuchtet zu sein und sich wiederum über Andere erheben. Sie denken, eine Theorie verstanden zu haben, haben eventuell Wissen, was andere Menschen nicht besitzen, stellen sich über Andere und schaffen damit einen Ausgleich für ihr Ego. Hinzu kommt noch das Phänomen, dass es Leute gibt, die es nicht verstehen, wenn sie von einer Thematik nichts verstehen.  Das findet sich, denke ich, bei Verschwörungstheoretikern des Öfteren wieder und wird durch Youtube und die ganzen Verbreitungsmöglichkeiten im Internet noch verstärkt.

Im Song beschreibe ich auch, das, wenn man für irgendeine Aussage einen Beweis finden möchte, man nur danach suchen muss und eine These für Alles im Internet findet.

S.: Als in eurem Monolith „Lysios“ der „Waidmannsvorsteher“ beworben wurde, musste ich herzhaft schmunzeln. Dennoch trefft ihr meiner Meinung nach mit eurer Satire den Nagel auf den Kopf. Ich kenne allerdings nur das allseits beliebte Jägergold oder den Gebirgskräuter aus dem Discounter. Woher kann ich den „Waidmannsvorsteher“ beziehen um mich im Alkoholrausch abzuschotten?

Nils: Es freut mich, das du schmunzeln musstest und den Eindruck hast, wir hätten mit dem „Waidmannsvorsteher“ den Nagel auf den Kopf getroffen. Genauso satirisch war es auch gemeint. Den „alten Waidmannsvorsteher“ gibts aber natürlich nicht. Das ist eine Wortkreation aus Waidmann für Jäger und Vorsteher für Meister. Das Adjektiv „alter“ kommt zusätzlich noch von dem Korn „alter Senator“.

Den „Waidmannsvorsteher“ kannst du leider gar nicht kaufen, aber wir haben Aufkleber, die man sich auf seine Flasche kleben kann. Wir machen vielleicht auch noch mal ein T-Shirt mit dem Motiv.

S.: Was erwartet den Hörer auf eurer Tour im Herbst? Werdet ihr einen starken Fokus auf das neue Material legen?

Nils: Den Hörer wird auf der Tour ein buntes Potpourri aus allen Alben erwarten. Wir werden das neue Album nicht in seiner Gänze präsentieren. Ich finde wir sind keine Band, die sich immer wieder komplett neu erfindet. Wir versuchen zwar neue Wege zu gehen, aber mir persönlich ist es wichtig, das eine Band über den gesamten Zeitraum ihres Schaffens bewertet und gesehen wird. Dementsprechend wollen wir aus unserem Schaffen einen Querschnitt bieten. Es wird alle vier Alben geben und speziell natürlich einige Songs von „Eskapist“. Sonst wäre es ja blöd.

S.: Wie sehen eure Wünsche und Vorstellungen für das weitere Wirken der Band aus? Gibt es schon konkrete Pläne, was neue Releases und Projekte angeht?

Nils: Wir haben ein loses Konzept für ein weiteres Album und planen die Band momentan definitiv in unser Leben ein für die nächsten paar Jahre. Dann müssen wir weiter schauen. Im Moment macht das Alles zum größten Teil Spaß und wir müssen sicherlich noch ein paar Dinge anpassen, damit es auch weiterhin so funktioniert.

 

 

Konsumist

S.: Im letzten Interviewsegment bitte ich euch aus Sicht des Musikkonsumenten bzw. -liebhabers zu antworten. Wie wichtig sind dir als Hörer Texte im Metal bzw. allgemein in der Musik? Ich habe den Eindruck und ertappe mich leider selbst oft genug dabei, dass ich den Texten zu wenig Beachtung schenke.

Nils: Das geht mir genauso wie dir. Ich ertappe mich auch zuweilen dabei, das ich den Texten zu wenig Beachtung schenke. Es kommt für mich aber auch immer darauf an, was es für Musik ist und in welcher Sprache die Texte verfasst wurden.

S.: Interessiert dich die Metalszene und was kannst du  an gitarrenorientierter Musik aus eurem lokalen Raum Hannover empfehlen?

Nils: Mich interessiert die Metalszene nicht wirklich. Ich finde Szenen generell eher langweilig. Mit meinen beiden Musikern an meiner Seite bin ich jedoch ganz zufrieden. 😉

S.: Zum Abschluss möchte ich dich bitten, unseren Lesern 3 Alben/Bands zu nennen, die dich in der letzten Zeit begeistert haben und die du den Usern unseres Magazins ans Herz legen möchtest.

Nils: Bei dieser Frage offenbart sich, das ich nicht der große Musikkonsument bin. Die Alben, die ich in letzter Zeit gehört habe, sind:

THRICE – „To Be Everywhere Is to Be Nowhere“

MARMOZETS – „The weird and wonderful Marmozets“

Mehr fällt mir jetzt ehrlich gesagt gar nicht ein.

S.: Ich danke dir für das Interview und wünsche weiterhin alles Gute und viel Erfolg mit dem Album!

Nils: Bitte gern! Danke auch noch für die ausführliche Auseinandersetzung mit dem Album.

 

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