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PALLBEARER – 10 Jahre Aufarbeitung

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PALLBEARER – „Forgotten Days“

Veröffentlichungsdatum: 23.10.2020
Dauer: 52:55 min
Label: Nuclear Blast
Genre: Doom Metal/Heavy Rock

Passend zu Herbst und Pandemie

Machen wir uns nichts vor: Wessen Bandname „Sargträger“ ist, der wird kaum fröhlich-frischen Sunshine-Metal spielen. Aber… Aaalter. Mich in dieser trostlos-tristen Zeit mit „Forgotten Days“, dem kürzlich erschienenen Full-Length-Album von PALLBEARER, zu beschäftigen, war schon wirklich nicht ganz einfach. So vergeblich ich an einem stürmisch-grauen, verregneten Herbsttag nach einem Sonnenstrahl suche, während ich aus dem Fenster meiner Wohnung den Blättern der Bäume zuschaue, wie sie vom Wind fortgerissen und davon geweht werden, so vergeblich sehn(t)e ich mich nach Zuversicht in den Texten der Songs auf „Forgotten Days“. Spoiler: Es gibt sie nicht. „Forgotten Days“ ist lyrisch genauso traurig und niederreißend wie es sein Riffing akustisch ist.

Ein persönliches Stück Geschichte

Doch das soll und muss so sein, denn: Auf „Forgotten Days“ beschäftigt sich insbesondere Basser Joseph D. Rowland mit dem 10 Jahre zurückliegenden Tod seiner Mutter und dem Prozess des Weiterlebens nach solch einem Schicksalsschlag. Deshalb finden sich auf diesem Album auch viele Gemeinsamkeiten mit dem Debüt „Sorrow and Extinction“, das zu der Zeit, als seine Mutter bereits unheilbar krank war und schließlich starb, entstand. „Forgotten Days“ stellt zu weiten Teilen einen langen Dialog Rowlands mit seiner Mutter dar.

…das (nicht) jeder versteht?

Das mag vielleicht erst einmal erdrückend und vielleicht sogar abstoßend wirken, weil es so tiefgehend „negativ“ ist. Doch letztendlich komme ich nach dem mehrmaligen Durchhören von „Forgotten Days“ immer mehr zu dem Schluss, dass ich ein ausgesprochen großartiges Album vor mir habe. Denn es singt mir vor, was ich – was wir alle – nur zu gut kennen: Etwas Schlimmes passiert, und statt uns Zeit für uns selbst zu nehmen, machen wir weiter. Wir lenken uns ab. Bis irgendwann der Moment kommt, wo es über uns hereinbricht und wir uns fragen: Was habe ich getan? Was ist aus mir geworden? Wie konnte ich seitdem weiter machen – Du fehlst! Und dann kommt der heilende Prozess, in dem wir uns damit auseinandersetzen, was war und was ist. Dieser schmerzhafte, schwierige Prozess muss kommen und führt am Ende dazu, dass wir neue Kraft schöpfen können.

So habe ich beim Hören der Songs zunehmend Tränen in den Augen, seit ich die Lyrics gelesen und – vor dem Hintergrund – verstanden habe, weil ich Parallelen ziehe. Auch ich habe tote Familienangehörige oder Freunde, die viel zu früh gegangen sind und mit denen ich in einsamen Momenten Dialoge führe. Ich gehe davon aus, dass jemandem, dem derartige Erfahrungen noch fehlen, der Zugang zum Album schwerer fallen könnte – das ist natürlich beneidenswert! Doch wenn ihr nachvollziehen könnt, worum es geht, rate ich euch: Setzt euch mal hin, mit einer schönen warmen Tasse Tee und vielleicht genau diesem Album.

Trauer und Familie als roter Faden

Auch das Artwork des Albums, das vom sehr talentierten Künstler Michael Lierly, dem Bruder von Schlagzeuger Mark Lierly stammt, wurde mit den thematischen Eckpunkten „Familie, Verlust“ in Auftrag gegeben und trifft das Thema perfekt. Allerdings muss ich zugeben: Hätte ich all diese Informationen nicht, würde ich vermutlich zu dem Ergebnis kommen, ein „nur“ normal gutes PALLBEARER-Album vor mir zu haben – und zwar musikalisch nicht das stärkste.

Zurück zu den Wurzeln

Zu sehr nach vorn marschierend ist da im Vergleich „Foundations of Burden“, zu komplex genial und dennoch tiefgründig das absolut grandiose „Heartless“ aus 2017. Zwar kann ich mich der vom Label Nuclear Blast getroffenen Aussage anschließen, dass auf „Forgotten Days“ die bisher besten gesanglichen Leistungen von Sänger/Gitarrist Brett Campbell zu hören sind. Doch mich holen die oft recht (gewollt) stumpfen Riffs irgendwie ein bisschen weniger ab als „Heartless“. „Forgotten Days“ klingt tatsächlich eher „klassisch“. Manchmal erinnert der Gesang sogar an fetten Heavy Metal – die Riffs passend dazu oftmals an klassisch-fetten Stoner Doom.

Andererseits finde ich auch auf „Forgotten Days“ ganz klar viele Momente zum Niederknien vor der musikalischen Glanzleistung der Kombination wunderbar melodiöser Gitarrenmelodien, untermalt von mächtigen Riffs und marschierenden Drums. Und über all dem erstrahlt der klare, emotionale Gesang Campbells (und Rowlands).

Acht schmerzlich schöne Stücke

Die solide 8-teilige Tracklist beginnt mit dem gleichnamigen Song „Forgotten Days“ mit einem klassischen zermalmenden Stück Old School Heavy Metal in Perfektion. Der nachfolgende Song „Riverbed“ ist mein persönlicher Lieblingssong. Marschierend-melodiöse Riffs und schöne Gitarrenmelodien, zweimalig unterbrochen durch einen ruhigen „Balladen-Part“, in dem eine gefühlvoll gespielte Gitarre die bewegend emotional gesungene Strophe begleitet…

„distant memories – form constellations of despair – guiding through the state of disrepair
illuminate  – all the hurts that have accrued – unlock the cage, holding back the truth“

…wie auch wenig später im Song:

„distant silhouettes – nearly all of them obscured
Exposed to be the damages incurred.“

Doch der absolute Gänsehautmoment für mich folgt ab 4:24, als nach einer längeren Doom-Passage die Lead-Gitarrenmelodie ummantelt wird von den restlichen Instrumenten und die auf den Titel des Songs Bezug nehmende Zeile auf ergreifendste Art und Weise darüber gelegt wird – zauberhaft traurig.

„Laying down in the riverbed
counting the words that I’ve never said to you
their numbers swell so far above my head
wide-open eyes drink in torrential red
– as I drown“

Es folgt mit „Stasis“ ein mit nur 4 Minuten für Doom sehr kurzer Song, von dem insbesondere die Textzeile „do you need a reason to smile again?“ sowie das mehrfach wiederholte „Stasis“ hängenbleiben. Das darauffolgende 12 minütige Epos „Silver Wings“ macht zeitlich jedoch alles wieder wett, was Stasis vorher rausgeholt hat. Ein unglaublich kraftvoller, aber aufgrund der Länge auch kräftezehrender Song, für den ich mir mehrfach bewusst Zeit nehmen muss. Auch hier kommt mit den nachfolgenden Textzeilen wieder jede Menge schwer verdauliche Resignation und Trauer auf den Hörer zu:

„I cannot remember – from where I came
and I cannot remember -who I once was
the slow march of time – turns even the greatest of triumphs
into nothing – nothing more than sand
washed into the infinite sea“

Auch beim Nachfolger „The Quicksand of Existing“ macht bereits der Name klar, dass auch dieser von der dahinsiechenden Vergänglichkeit des Seins handelt. Dieser Song jedoch unterbietet sogar „Stasis“ mit seiner Länge von nicht ganz vier Minuten. Für alle, die sich einen schnellen Überblick über das Album verschaffen wollen, ist er neben „Riverbed“ definitiv einer meiner Anspieltipps!

Dann folgt mit „Vengeance and Ruination“ ein bitteres Stück der inneren Verurteilung, Verletzung und Selbstaufgabe, das mit fast sieben Minuten Spielzeit und einer schweren, düsteren Atmosphäre auch mich beim Zuhören ordentlich mitschleift. Mit dem sich anschließenden, fast fünfminütigen „Rite of Passage“ schließt sich ein weiterer Anspieltipp meinerseits an, der vorantreibt und phasenweise irgendwie mächtig/episch klingt. Vielleicht beabsichtigt – angesichts der Tatsache, dass hier immerhin der „Übergangsritus“ vom Schmerz zu Erkenntnis behandelt wird, der nach der schmerzlichen Selbstaufgabe folgt. Auch hier möchte ich wieder mit einer Textpassage den Song für sich selbst sprechen lassen:

„this rite ofpassage
it took all of these years, but now I finally know
one question to ask of you:
did part of me die while watching you go?“

Wer mitgezählt hat, wird feststellen: Jetzt kommt das letzte Stück des Albums. Und es trägt den rätselhaften Titel „Caledonia“ (Kaledonien). Google verrät: „Die Kaledonier waren ein antikes Volk, das im östlichen Teil des heutigen Schottland siedelte“ – Aha. Hmm. Also? Ein Bezug zu einer Gegend? So richtig werde ich auch nach Übersetzen des Textes nicht schlau daraus, WAS „Caledonia“ ist. Auf jeden Fall müssen dort offenbar furchtbare Dinge passiert sein, die für den Protagonisten wohl auch immer dort bleiben werden. Meine Vermutung ist, dass vielleicht die Gegend, in der die Mutter verstarb, damit gemeint sein könnte.

„from the depths of your being
one last moment awake
from the depths of my being
from Caledonia“

Muss ich mir das wirklich antun?

Wer bis hierhin gelesen hat mag sich vielleicht fragen: „Hmm, okay. Tod, Trauer, Bewusstwerden ob der Vergänglichkeit des Seins, Trostlosigkeit – jetzt nicht wirklich was Neues im Metal. Nichts besonderes also! Oder doch? Nun, ich persönlich denke, dass sich diese Frage nur jeder selbst beantworten kann und dass sie sich überhaupt nur diejenigen werden beantworten können, die aufgrund bestimmter Ereignisse ein besonderes emotionales Verhältnis zu einem Album aufgebaut haben. Und diese Menschen werden vielleicht sagen: Nein, das ist anders. Denn es tut nichts leichtfertig ab oder vertröstet mit leeren Phrasen, ist auch nicht nur plakativ. Es fokussiert sich auf den Schmerz und seine Verarbeitung. Und jede(r) der/die dies schon einmal tun musste, weiß: DAS ist sehr wichtig.

 


Dies ist ein Gastbeitrag von: Simon

Autorenbewertung

8
Musikalisch mag es nicht das vorantreibendste, schon gar nicht das motivierendste Album im Doom Metal oder selbst von PALLBEARER sein. Doch: Wer ohnehin Fan des Gesangs von Campbell ist, wird hier definitiv seine beste Performance erleben. Daneben gibt’s eine ganze Palette guter alter, klassischer PALLBEARER-Riffs voll tiefgründiger Schwere. Und - Was es für mich zu etwas besonderem macht: Wer dieses Album in seinen Händen hält oder auch nur hört, der hat etwas vom Künstler vor sich, das sehr persönlich ist. Sehr intensiv persönlich sogar.
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8 / 10 Punkten

Vorteile

+ sehr gute Gesangsperformance
+ schöne Melodien, fette Riffs
+ "back to the roots"
+ sehr persönliches Werk

Nachteile

- nicht gerade "motivierend" (Wer nach hoffnungsvollen Themen sucht, sucht besser woanders)
- weniger abwechslungsreich
- "back to the roots"

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