Phänomen Lyric-Videos | Degenerierte Kunst?

Ohje. Ist es euch auch aufgefallen? Bitte sagt, dass es nicht nur mir so geht! Vielleicht verfolge ich auch nur die falschen Kanäle… aber – was zum Teufel ist passiert, dass mir in den letzten Wochen nur noch Lyric-Videos über den Weg laufen?

Misheard Lyrics, das waren so die ersten Videos mit eingeblendeten Texten, die ich wahrgenommen habe. Und Fanvideos, in denen meist Fotos der Band oder Artworks mit den Lyrics verbunden worden sind. Alles an sich okay, wenn auch meistens für mich eher Augenkrebs erzeugende Produkte. Wer es mag, kann sich das Zeug ja reinziehen. Das beides sind so Dinge, die unabhängig von der Planung durch die Band auf der Mattscheibe erscheinen. Dafür können die ja nix.

Wofür sie aber was können und was mich momentan so richtig abtörnt, ist die Tatsache, dass immer mehr Bands anscheinend schon standardmäßig Lyric-Videos veröffentlichen. Warum? Weil es einfach in der Produktion ist? Gedankengang: Ja, wir haben hier nen ultra-coolen Song, aber es ist weder die Idee noch das Geld für eine gute Videoumsetzung da. Ha! Wieso nicht einfach die Lyrics reinbasteln? Die sind doch Message genug. Wer braucht denn noch optisch anspruchsvolle Visualisierungen zu Musik?

ICH! Bitte! Gebt mir meine Musikvideos zurück!

Wenn ich durch’s Netz browse und sehe, dass Band XY ein neues Video draußen hat, denk ich mir: „Schön, die teasen einen Leckerbissen aus ihrem neuen Album an. Machste mal 5 oder 10 oder 15 Minütchen Pause und gönnst dir einen Ausflug in eine andere Welt.“ Guckste rein, was passiert? Klick – bumm – Enttäuschung! Ich bekomme Songtexte vorgesetzt. Songtexte vor einem … hmm … nichtssagenden Hintergrund. Manchmal ist der sogar animiert. Sieh an!

Wo mein Problem damit ist? Ich möchte eigentlich die Musik für sich sprechen lassen, um damit, und mit der optischen Umsetzung, in eine andere Welt eingesogen zu werden. Lyrics interessieren mich sowieso eher nur am Rande. Wenn überhaupt, spielen sie für mich im Rahmen eines Konzeptalbums eine Rolle. Etwas, das in einem einzelnen Video allein, und im Falle einer Videoveröffentlichung vor Albumrelease sowieso, hinfällig ist. Doch nicht nur das. Ich habe noch ein Problem. Eins, das euch vielleicht auch vom Filmschauen bekannt ist. Irgendwie sind die Untertitel an und du hast keine Chance, von dort wegzuschauen. Auch nicht, wenn der Ton auf Deutsch ist und die Untertitel ebenso. Nope. Never possible. Der Film flimmert geradewegs an dir vorbei. Kein Auge für Bildkomposition, für’s Licht, für Kleinigkeiten. So eine Blockade legt sich bei mir, wenn ich Lyric-Videos anschaue, sogar noch auf die Ohren. Tatsächlich habe ich das Gefühl, von der Musik selbst wenig mitzubekommen, wenn ich mitlese.

Kluge Menschen mögen jetzt anmerken:
Dann guck doch einfach weg.

Ja, haha. Genau. Sinn und Zweck eines Videos ist es nämlich, dass ich weggucke.

Ich dachte, Videos seien da, um sie anzusehen. Und natürlich primär, um Musik und Band zu promoten. Das war vermutlich schon immer so und das sollte bitte auch so bleiben. Mit dem Launch von MTV im Jahre 1981 ging das mit der Selbstdarstellung von Bands ja erst so richtig los. Du willst besonders hip sein? Mach ein Video! Zieh dich und deine Kapelle so abgefahren an, dass die Leute euch im Gedächtnis behalten. Oder such dir jemanden, der wirklich Ahnung von der Materie hat und lass dir ein audiovisuelles Meisterwerk erschaffen, welches Eindruck hinterlässt. Sei verrückt, sei bunt, sei verstörend oder sei zumindest überzeugend. Aber stelle etwas dar! Im Idealfall führt die Zusammenkunft von Musik und Video zu einer so starken Immersion, dass der Zuschauer für mehrere Minuten vollkommen den Draht zur Realität verliert. Das ist auch das, was ich von Musikvideos erwarte.


Pink Floyd – Welcome to the Machine (HD video) von alavi-mrak

Tatsächlich – Lyric-Videos können mich dahingehend nicht fesseln. Die meisten sind einfach grottenschlecht gemacht und führen dazu, dass ich meine Zeit lieber mit anderen Dingen verbringe, als mich mit den neuesten Veröffentlichungen bei Youtube auseinanderzusetzen.

Doch noch einmal zurück zu MTV. Ihr Jungspunde da draußen, kennt ihr das eigentlich noch? Musikfernsehen? Sender, bei denen Musikvideos gesendet werden? Also, so den ganzen Tag? Hm? Ich erinnere mich noch daran. Gut, um die Anfangszeit tatsächlich mitbekommen zu haben, bin ich zugegeben doch auch noch etwas zu jung, aber wenn ich mir die „alten Schinken“ aus diesen Tagen ansehe, ist es förmlich spürbar, wie der neue Kanal von Musikbegeisterten gefeiert und ausgeschöpft worden ist. Im Laufe der Zeit hat sich dann natürlich die Machart der Videos – sei es der Klamottenstil oder der Video-Look – verändert. Je nach Mode und technischen Möglichkeiten. Und heute? Was wird daraus gemacht? Lyric-Videos! Zwar nicht mehr im Musikfernsehen (welches wie vom Erdboden verschluckt zu sein scheint), sondern im mighty Internet. Selbst OPETH und IN FLAMES tun es inzwischen. Warum?! Bands dieses Bekanntheitsgrades, bzw. deren Labels, sollten doch noch so viel Kleingeld auf Tasche haben, um ein ordentliches Video zusammenzuklöppeln, wenn sie denn schon unbedingt eines machen müssen.

Ich gebe zu, dass technische Neuerungen an Youtube-Videos auch nicht komplett vorbeigehen.

Jüngst sprang mich ein 360°-Video der finnischen Thrasher STAM1NA an. Ich habe ja erstmal gestaunt, was da so möglich ist. Wirklich cool ist es in der Umsetzung jedoch leider nicht. Aber: Was nicht ist, kann ja noch werden. Solche Entwicklungen sind mir immer noch um einiges lieber, als ein weiteres uninspiriertes Video – sei es wieder eins mit Lyrics und dem animierten Artwork des aktuellen Albums oder das tausendste Abrisshallen-Video, in dem die Musiker mit ihren nicht verkabelten Instrumenten zwischen Ventilatoren, Baustrahlern und Amps posieren.

Apropos uninspirierte Videos: Dass es auch anders geht, zeigen in letzter Zeit vor allem kleine und unbekannte Bands, die gut und gerne aus null bis wenig finanziellen Mitteln wirklich Sehenswertes erschaffen.

In diesem Sinne, liebe Musik-Menschen da draußen, die ihr vielleicht für eure Kapelle ein Video plant, oder ihr kreativen Köpfe, die damit beauftragt werdet: bitte denkt weiter als das, was euch die Adobe Suite ermöglicht.

Ideen und kreative Energie verbirgt sich nicht in eurer teuren Technik, sondern in der Welt!

Psst! Kleiner Video-Geheimtipp, der seit Roberts „Aus den Tiefen #1“ gar nicht mehr so geheim ist: VÖGEL DIE ERDE ESSEN


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