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Progressive Traurigkeit – kann man den Screamo noch weiterentwickeln?
ANORAK. – Enthusiasts And Collectors
Veröffentlichungsdatum: 06.05.2016
Dauer: 46:06 min
Label: Uncle M Music
LIEBES TAGEBUCH,
GESTERN BIN ICH AN EINEM SCHÖNEN HERBSTMORGEN MIT MEINER FREUNDIN AN DEN SEE SPAZIERT. DABEI HABEN WIR NUR PIANOS BECOME THE TEETH, LA DISPUTE, GLASS JAW UND HOT WATER MUSIC GEHÖRT. DANN HAT SIE MIT MIR SCHLUSS GEMACHT.
So ungefähr fühlt es sich jedenfalls an, wenn man das Debüt-Album der Screamo-Truppe „anorak.“ – ja, kleingeschrieben und mit Punkt – aus ganz Deutschland anhört. Betroffen vom Leid der besungenen Menschen, malt man sich da schon das ein oder andere persönliche Elend aus. Der Name soll übrigens Kunst sein und war das Resultat einer freiwilligen Trennung vom Namen „anchor of a pariah“. Ob die Band dabei ihre Liebe für Jacken im Hinterkopf hatte, bleibt wohl für immer ein Geheimnis.
In „Enthusiasts And Collectors“ treffen Einflüsse aus allen Richtungen aufeinander: Eine wahre Genreorgie, bei der am Ende keiner mehr genau weiß, wer mit wem, wo und warum. Und das ist auch gut so, denn um Genrefindung sollte es bei keinem Album gehen, denn was zählt, ist das hierbei sehr gut gelungene Gesamtwerk. Hier tummelt sich alles von Indie über Melodic Hardcore bis zu Post-Hardcore und Post-Rock. So treffen direkt im ersten Song La Dispute-ähnliche Passagen auf eine äußerst gewöhnungsbedürftige, aber wiedererkennbare Scream-Technik.
Dadurch wird der Hörer sofort darauf eingestimmt was gleich kommt: Melancholie pur.
Die vereinzelten Gang-Shouts lassen exzellente Live-Erlebnisse vermuten und die Texte sind zum Mitfühlen und Nachweinen geschrieben. Wer von langsamer, emotionaler Musik also nichts hält, sollte die Finger vom Album lassen.
Aber auch schnellere Abschnitte werden häufig auch mit dynamischen Vocals gut ausgefüllt und können überzeugen, wobei jedoch die langsamen und atmosphärischen Stellen das Album definieren. Hier dürfen die Gitarren atmen und das in den Mix gut eingearbeitete Schlagzeug gibt nur das Nötigste an Unterstützung. Die Instrumentation kann auch so einiges mehr als nur schnell und laut, beziehungsweise langsam und einfach, so sind die Riffs auf den meisten Songs zwar ähnlich, aber dennoch keineswegs recycelt oder geklaut.
Und bevor mir vorgeworfen wird, dass der Titel zu genrefeindlich und unbegründet ist: Auch Parts wie man sie vielleicht eher von Steven Wilson und Konsorten erwarten würde, kann man bei genauerem Zuhören entdecken. Das liegt vor allem daran, dass trotz der emotional bewegten Natur von Stimme und Text, die Riffs durchaus fröhlich klingen und auch den „Catchyness“-Faktor mitbringen, sei es nun mit oder ohne Sänger im Vordergrund.
KANN SCREAMO PROGRESSIV SEIN?
Langeweile kommt daher keinesfalls auf, wenn man die äußerst interessant strukturierten Songs hört. Und das trotz der ziemlich einseitig traurigen lyrischen Betrachtungen. Jedoch sind diese Texte nicht zu vernachlässigen, da sie sich mit Krankheiten zweierlei Art beschäftigen: gesellschaftliche und persönliche. Hier wird über die Bewältigung des Alltags – trotz Zwangsneurosen – geschrien und noch viel mehr, aber das möchte ich hier nicht alles verraten.
Wo die Vocals die Struktur vermissen lassen und zum Teil für den Hörer nicht erklärbare und zufällig wirkende Umbrüche aufweisen, weisen die Gitarren den Weg und leiten durch jeden Song. Den einzigen großen Abzug gibt es dennoch beim sehr spärlich gesäten Gesang, welcher in der ersten Hälfte des Albums definitiv noch viel Arbeit braucht, bis er auf eine Platte sollte. Da glaubt man kaum, dass an dieser hier schon 3 Jahre gearbeitet wurde. Trotzdem waren es diese – für die Musiker wahrscheinlich sehr langen – Jahre definitiv wert und man darf ein äußerst interessantes Debüt-Album an die Ohren lassen.
Für jeden sollte was dabei sein, sei es für den Hardcore-Teenie, Rock-Papa oder Prog-Opa, denn jeder Song weist mindestens ein oder zwei Stellen auf, die ihn von den anderen abgrenzen sollte. Der einzige Streitpunkt der Generationen, nach dieser äußerst positiven Review, sollten eher die weinerischen Screams sein.
Diese werden von mir aufgrund persönlichen Geschmacks für sehr gut empfunden.
Den Indie und DIY-Ethos scheint die Band auch trotz Plattenvertrag durchdrungen zu haben: Sie veröffentlichten das Album-Cover in sage und schreibe 500 unterschiedlichen Ausführungen. Diese unterscheiden sich alle durch das Polaroid-Foto auf dem Cover. Alle fotografischen Ergüsse stammen aus dem Foto-Projekt „humans and landcapes“ des Gitarristen, welches die Betrachtung von Natur aus urbaner Perspektive zeigen soll.
Glücklicherweise darf ich noch anmerken, dass nicht, wie von vielen anderen Post-Hardcore- und Emo-Bands gewohnt, ab der Hälfte des Long-Players der Druck fehlt. Ganz im Gegenteil ist man die gesamte Zeit gespannt und wartet darauf, was die Musik als nächstes mit einem macht. Mit diesem Album werden „anorak.“ hoffentlich auch die Anerkennung in der Szene finden, die sie verdienen. Und das auch, obwohl – oder gerade weil – sie sich musikalisch stark von den bekannten Szene-Kollegen wie KMPFSPRT, HEISSKALT und MARATHONMANN abzugrenzen wissen. (Das liegt daran, dass keiner der in dieser Rezension gezogenen Vergleiche mehrfachem Hören standhält.)
Beenden wir nun die ganze Euphorie hier mit meinem Tagebuch:
ABER ES WAR MIR EGAL, DASS ES AUS WAR!
DENN ICH HAB EINE GRUPPE GEFUNDEN DIE MIR HOFFNUNG SCHENKT, HOFFNUNG IN DIE SPRENGUNG VON GENRE-GRENZEN UND DAS VON EINER NOCH SO JUNGEN BAND. ABER AUCH EIN MULMIGES GEFÜHL. DENN ICH HABE NICHT DIE IM TEXT BESCHRIENEN KRANKHEITEN UND HABE NUR TRIVIALE PROBLEME. AB JETZT MUSS ICH NICHT MEHR DIE OBEN GELISTETEN BANDS HÖREN UND KANN ALL DAS, WAS SIE UND MEINE FREUNDIN MIR GABEN, VON NUR EINER QUELLE BEZIEHEN: ANORAK.
Dies ist ein Gastautorenbeitrag von: Jonas
Autorenbewertung
Vorteile
+ beruhigt, richtet den Blick auf wichtige Probleme
+ äußerst einprägsam
+ emotionale Texte
+ ruhige und laute Passagen wechseln sich oft ab
+ hält das Interesse aufrecht
+ aus vielen Einflüssen wurde ein überzeugendes, innovatives Gesamtpaket geschaffen
Nachteile
- beim Gesang wird teils der Ton nicht getroffen
- Screams gewöhnungsbedürftig
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