Rendesvouz im Zwielicht – Prophecy Fest 2017
Der Vorhang teilt sich einen Spalt breit – und ich tauche für die nächsten zwei Tage in das Zwielicht ein.
Letztes Jahr war ich zum ersten Mal in der Kulturhöhle in Balve zu Gast und erlebte dort das Prophecy Fest 2016. Von den wunderbaren Erfahrungen des letzten Jahres geleitet, führte mich mein Weg dieses Jahr erneut ins Sauerland. Nun, ein Jahr später, bin ich zusammen mit Robert zurückgekehrt und zusammen haben wir die Autogrammstunden an unserem Silence-Stand übernommen und dabei wieder eine Reihe von großartigen Musikern kennengelernt.
Letztes Jahr lies sich eine leichte Ausrichtung auf Künstler unterschiedlicher Black-Metal Subgenres erkennen – dieses Jahr jedoch gab es eine faszinierend-dunkelschillernde Mixtur aus allem, was das Label Prophecy zu bieten hat. Ein gewagter Spagat zwischen Piano-Klängen, hypnotischen Retro-Rock, Dark Metal, Dark Wave-Rock ’n’ Roll, Gothic-Progressive-Pop-Rock und was auch immer HYPNOPAZUZU eigentlich machen. Sicherlich also kein Line-Up, das mit irgendeinem anderen “typischen” Metal-Festival vergleichbar wäre. Das Prophecy Fest richtet sich an Freunde besinnlicherer Klänge und introspektiver Selbstreflektion.
Muss man WIRKLICH auf die Bühne?
Und so beginnt das Prophecy Fest 2017 nicht mit einem großen Knall, wie man dies von anderen Veranstaltungen kennen mag, sondern so ruhig und unauffällig, wie man es sich nur vorstellen kann. NHOR spielen beruhigende Klavierstücke und währenddessen entsteht ein Gemälde, das ein wenig an das Cover von INSOMNIUMs “Winter’s Gate” erinnert. Der Prozess wird währenddessen über einen Beamer an eine Leinwand projiziert, die an der Bühne angebracht wurde und von den Bands verschiedenartig genutzt wird, um ihre Darbietung zu untermalen.
Mittlerweile bin ich zu der Erkenntnis gelangt, dass es Musik gibt, die keiner öffentlichen Darbietung bedarf. Und dazu gehören diese “Artisten der Zurückgezogenheit”, deren musikalischer Wert sich durch den solitären Genuss errechnet. Deutlich gesagt: bei zelebrierter Einsamkeit und Stille kann ich nicht in einer Gruppe von Menschen stehen. Die Weltpremiere von NHOR in allen Ehren, doch bedarf es meines Erachtens bei dieser Musik keine Live-Darbietung.
Noch deutlicher als letztes Jahr drängt sich mir der Gedanke auf, dass es sich bei dieser Veranstaltung um eine gänzlich neue Art geht, Metal und artverwandte Musik zu präsentieren. Als eine multisensorische Darbietung, einen Hybrid aus Vernissage und Konzert – in anderen Szenen durchaus nicht unüblich, aber gerade im sehr klassischen und pragmatischen Metal ein neuer und faszinierender Ansatz. Und so gibt es im hinteren Teil der Höhle auch jedes Jahr die Ausstellung eines Künstlers. Dieses Jahr ist es IRRWISCH aus Österreich, der sich für die prägnanten künstlerischen Gestaltungen des diesjährigen Festes verantwortlich zeichnet.
SOROR DOLOROSA tragen dann die Energie in die Höhle. Überwiegt auf der heimischen Anlage eher die kalte Monotonie des Coldwave, formt sich der Klang während des Auftritts zu einer mitreißenden, ja fast tanzbaren Rock-Einlage. Sichtbar engagiert gehen die Musiker zu Werke und übertragen ihre Begeisterung auf das Publikum, das während NHOR doch etwas ratlos in den Nachmittag starrte. Laute Rufe der Begeisterung hallen von den Höhlenwänden wider.
Hinein in den Sog …
Tempo und Energielevel erhöhen sich erneut, als Schwadorf (EMPYRIUM/THE VISION BLEAK) mit Begleitung das 2. Konzert mit seinem Solo-Projekt SUN OF THE SLEEPLESS zelebriert. Eine erhaben-schwarzmetallische Portion atmosphärischer Düsternis trifft die Zuschauer, die es sich nicht entgehen lassen wollen, nach 18 Jahren Bühnenabstinenz, wenn schon nicht des Künstlers, so doch des Projektes, die alten und neuen Stücke (vom Album “To The Elements”) im kühlen Zwielicht der Balver Höhle ihre Wirkung entfalten zu sehen.
Ein ganz besonderes Erlebnis des Tages sind ARCTURUS, deren Musik, aber auch Bühnenauftritt – oder sagen wir, ganzes Wesen – einem skandinavischen Märchen entsprungen scheint. Verrückt, wild und unerwartet. Alter und neuer Sänger Simen Hestnæs, vielen eher als Vortex bekannt, gelang es, mich bereits 2015 mit einem Auftritt seines Soloprojektes I.C.S. VORTEX in Wacken von seiner außergewöhnlichen Stimme zu überzeugen. Und auch am Mikrofon für ARCTURUS bringt er es fertig, scheinbar nebenbei und völlig selbstironisch in seiner Rolle für die Band aufgehend, seinen Stimmbändern und Lippen Töne zu entlocken, die mir durch Mark und Bein gehen.
Etwa zu diesem Zeitpunkt beginnt der Abend zu verschwimmen – bunte Neonfarben in gleichmäßiger Düsternis, flüchtige Gesichter und Gespräche. Als guter Autogrammstundengastgeber hat man immer ein paar Kurze für die Bands parat und muss aus Höflichkeit natürlich mit anstoßen. So verbringe ich den Auftritt von GLERAKUR mit ARCTURUS und Trinksprüchen am Silence-Stand und bemerke fast nicht, dass sich der Ablauf der Veranstaltung sehr stark verzögert hat. Und als dann endlich der Headliner SÓLSTAFIR auf der Bühne steht, muss ich etwas resigniert konstatieren, dass sie nahezu das selbe Set wie immer spielen und nur ein einziges Lied vom neuen Album dabei ist. Gerade das könnte in dieser intimen Atmosphäre besonders gut seine Wirkung entfalten. Auch diesen Abend spielen sie “Necrologue” und während der “Einleitung” in das Stück – nebst Geschichte über den Freund, der Selbstmord beging und zu dessen Erinnerung man ihm dieses Stück gewidmet hat – wird der Ton etwas ruppiger. Scheinbar gibt es in der Menge ein paar weniger interessiert Lauschende, die sich während der Erzählung von Aðalbjörn Tryggvason angeregt unterhalten und lachen. Dafür werden sie postwendend scharf von ihm gemaßregelt.
Danach versinkt der Abend im Nebel und ich in meinem Schlafsack …
Ein neuer Tag
Der nächste Morgen ist die reine, aber selbstverschuldete Hölle. Prinzipiell weiß man es ja besser, man ist ja auch kein Anfänger mehr – aber die vielen netten Leute, ein Prost hier, ein Skòl dort und dann “ach, koste mal von meinem Selbstgebrannten” – und schon ist man hinüber. Nur gut, dass mir Stephan von Prophecy mit Kräutertee zu Hilfe kommt!
Während mein Körper immer noch versucht, fehlerfrei zu funktionieren, kündigt sich die erste Band des Tages an: LOTUS THIEF. Unterstützt von einem Video, das auf der Leinwand im Hintergrund abgespielt wird, verzaubern die KalifornierInnen zum ersten Mal überhaupt europäisches Publikum mit ihrer Mischung aus Space Rock und Ambient-Black Metal. Leider bin ich mit ihrem Werk noch nicht vertraut, sodass ich mich noch nicht ganz darauf einlassen kann. Tatsächlich wird ein Konzert in den meisten Fällen erst dann zu einem magischen Erlebnis, wenn man sich im Vorfeld bereits ausführlicher mit dem Künstler und seinem Schaffen befasst hat. Bis zum nächsten Besuch in Deutschland, so es denn einen geben wird, werde ich das auf jeden Fall nachgeholt haben!
Ich warte indes allerdings mit besonderer Spannung auf eine Formation, die ich bereits seit ein paar Jahren musikalisch verfolge und deren magische Klänge mich seit jeher begeisterten und gedanklich fortgetragen haben: THE MOON AND THE NIGHTSPIRIT. Ein ungarisches Duo erzählt Märchen und Geschichten von Schamanismus und Fabelwesen, untermalt von mittelalterlich anmutenden Folk-Klängen. Multiinstrumentalistin Agnes Toth schafft es nicht nur mit ihrem Spiel, den Graben zwischen dem Hier und Jetzt und dem Vergangenen und Vergessenen zu überwinden, ihre bezaubernd feine Stimme gibt der ganzen Musik von THE MOON AND THE NIGHTSPIRIT eine Aura der Überweltlichkeit. Ich lasse mich von der Musik mitreißen. Auf der Bühne wird das Duo noch von Bassist, Percussionist und Flötist ergänzt. Dieses Konzert habe ich wirklich sehr genossen und allein dafür hat es sich gelohnt, den ganzen Weg nach Balve gekommen zu sein.
Der Reiz des Entdeckens
SPIRITUAL FRONT waren mir bis dato kein Begriff, ich hatte nicht einmal vor, ihre Show zu sehen. Was mir jetzt aber von der Bühne entgegenschallt, ruft mich dann doch wieder auf den Plan: Dark Wave-Rock ’n’ Roll, ein Italo-Western im Hintergrund und ein Italo-Johnny Cash auf der Bühne. Mit dem “Armageddon Gigolo” Spezial-Set wirken sie auf den ersten Blick völlig deplatziert, eingebettet in Folk, Black und Avantgard. Doch nach wenigen Augenblicken der Eingewöhnung wird mir wieder bewusst, wie vielseitig und künstlerisch anspruchsvoll der Rahmen des diesjährigen Prophecy Festes ist. Man kann hier nicht einfach mit dem Anspruch herkommen, unterhalten zu werden. Es ist mehr wie die Verkostung ganz unterschiedlicher Substanzen mit völlig unterschiedlichen Geschmacksnuancen und Wirkungen. Ich bin völlig fasziniert, geradezu begeistert von diesem Stil, diesem düsteren Charme, der so ganz nachvollziehbar auf der Bühne produziert wird, und nehme mir vor, Fan dieser Band zu werden. Mein große Entdeckung und fühlbar ein weiterer Schritt auf dem Weg meiner musikalischen Entdeckungsreise.
Danach kommen NOÊTA, ein alterstechnisch höchst ungleiches Duo, welches auf der Bühne immer wieder mit Sound-Problemen zu kämpfen hat. Was mit “Black Ambient Folk” bezeichnet wird, erscheint mir eher eine düsterere Form der frühen Lana Del Rey-Veröffentlichungen. In den ersten Minuten bin ich schlicht und ergreifend sprachlos ob der stimmlichen Breite von Sängerin Elea. Leider bleibt es im weiteren Verlauf des Auftritts überwiegend ereignislos und gleichförmig. Die Hoffnungen, die die Einleitung weckte, konnten leider nicht erfüllt werden.
DORNENREICH polarisieren gekonnt und gewollt. Mit ihrem Akustik-Set sind sie für viele Besucher des Tages die wichtigste Band. Leider muss ich an dieser Stelle gestehen, dass ich zu der anderen Gruppe gehöre. Nämlich jenen, die mit ihrer Musik überhaupt nichts anfangen können. Der Auftritt war sehr leidenschaftlich, aufregend intensiv und intim – jedoch kann ich nicht anders, als mit der Musik der Band zu fremdeln.
Doch wie bereits früher am Tag, ist das Prophecy Fest für Überraschungen gut: Vor einigen Jahren war ich ein großer Freund der erste Alben von THE VISION BLEAK, verlor jedoch irgendwann das Interesse und somit die Band aus den Augen. Nun stehen Konstanz und Schwadorf gemeinsam mit den SHADOW PHILHARMONICS auf der Bühne und ihre Musik verwandelt sich in ein theatralisches Gesamtkunstwerk. Wie viel Tiefe die Musik durch Pauken, Streicher und Sopranistin erhalten kann, ist überwältigend und die Reaktion der Zuschauer dementsprechend.
Ruhe statt Retro-Rock
Vollauf begeistert schicke ich mich darauf an, ein paar Minuten zu Ruhen. HEXVESSEL und DOOL sind einfach keine Bands, die mich hinter dem Ofen hervorlocken können, jedoch sind die akustischen Stücke, die HEXVESSEL im Rahmen ihres Programmes zum Besten geben, sehr stimmig und verbreiten mehr Gefühl als der gängige Retro-Rock auf ihren Alben, an dem ich mich immer wieder versucht habe und doch nie einen Zugang finden konnte. Mehr Stromlosigkeit wagen – ist sowieso noch viel mehr retro …
The Sex of Stars
Ich erwache aus meinem absolut überfälligen Schlaf und tauche in die faszinierenden Klangwelten von HYPNOPAZUZU ein. Hymnisch-pathetischer Gesang über transzendenten Elektro-Wellen, die die Höhle fluten. Mit der Unterstützung von YOUTH, Bassist von KILLING JOKE, hat David Tibet seinen kreativen Geist wieder einmal von der Kette gelassen. Wer es in den letzten zwei Tagen nicht fertigbringen konnte, sich im Zwielicht der Höhle auf dem Weg der Wahrnehmung zu verirren und in andere Sphären abzudriften, der bekommt nun die letzte, aber ultimative Chance. Völlig over the top und abgehoben-verschroben ist diese Installation von Klangflächen, die eher wirkt wie ein Aktionskunst-Projekt. Doch nichts würde jetzt besser passen als “The Sex Of Stars”, um jeden Anwesenden daran zu erinnern, dass diese Tage in Balve kein Metalfestival waren. Sondern eine Vernissage, eine klangliche (aber auch optische) Bilderschau – ein Rendesvouz von Bild, Ton und Gedanken.
Und während wir das Sauerland hinter uns lassen, erstrahlt der Himmel im Rotgold der aufgehenden Sonne.
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1 Kommentar
Hi
guter Bericht. Ich fand Solstafir wurde seiner Rolle des Freitagsheadliners völlig gerecht. Und sie haben 2 Songs vom neuen Album gespielt!