Die Angst vor der Mittelmäßigkeit

Angst – eine der treibenden Kräfte unseres Lebens. Sie beeinflusst unser Handeln, Denken und Fühlen. Manchmal bewusst, manchmal allzu unbewusst.
Und sie geht tief, so viel tiefer als wir erwarten. Und selbst der einfache Musikjournalist ist von Angst getrieben.
Ich lese seit langer Zeit keine Reviews mehr. Ich schreibe auch selten noch einen derartigen Beitrag. Zum einen, weil mir Musik weit mehr bedeutet, wenn ich sie selbst für mich entdeckt habe. Zum anderen, weil mir die Meinung der meisten Redakteure und jene die sich als solche bezeichnen – völlig egal ist. Wie kommen sie denn eigentlich auf die verquere Idee, ihre subjektive Einschätzung eines Kunstwerkes anderer Individuen in den Orkus blasen zu dürfen. Auch als Parabelritter stehe ich mir da von Zeit zu Zeit selbst auf den Füßen. Noch perverser als der Versuch sich mit rationalen Mitteln den emotionalen Ergüssen eines völlig Fremden zu nähern, ist der Versuch all das in eine ZAHL zu pressen!

Wie soll man denn KUNST schätzen, außer unter dem Auktionshammer?

Kunst hat doch keinen Wert, keine Relation, keine vorgegebenen Richtlinien die es ermöglichen, durch die Berechnung der durchschnittlichen Abweichung von eben jenen Richtlinien, einen strukturellen Wert zu errechnen. Das mag vielleicht bei Mathcore und Technical Death Metal möglich sein, aber ob das noch Kunst oder den bloßen Triumpf des Willens über das Fleisch darstellt ist natürlich fraglich.
Und doch muss es Reviews und manchmal auch Punktewertungen geben. Warum? Weil der Mensch Vereinfachungen braucht. Es mag ja stimmen, dass der Redakteur möglichweise eine ganz eigene Ansicht darüber besitzt, WAS ein gutes Album ausmacht, jedoch gibt es eine ungeheure Bandbreite an Künstlern, die auch objektiv betrachtet Schrott sind und diese müssen, vor allem in Zeiten der überquellenden Fülle an Neuerscheinungen, ausgesiebt werden um mehr Platz für die empfehlenswerten Alben zu machen.


Es gibt also keine Form und keine empirische Möglichkeit, die Arbeiten objektiv zu bewerten, fernab von technischen Mängeln oder lyrischen Totalausfällen und jeder Autor gießt seine subjektivsten Ansichten hemmungslos über dem Leser aus und jener kann nie WIRKLICH wissen, ob er aus seinem eigenen Kunstverständnis heraus zum gleichen Schluss käme.

Wir sind dem Schreibenden also ausgesetzt. Kunstrezeption erfordert die Aufmerksamkeit und die Mitarbeit des Lesenden. Doch wer liest eine Review schon aktiv und geistig-arbeitend?
Dient sie nicht meistens eh nur als schlichte Kaufempfehlung?

„Schau mal, die neue „ApgarngarnlknarPB OR“ von RPÖKOGJPEGOJEIPOHDN hat 9001 Punkte von Magazin XYZdrölf bekommen – das muss gut sein. Ich bestell mir das jetzt mal, brauch eh neue Musik.“

Also runtergebrochen auf mein Mantra: „Kaufen oder Kotzen“. (Ich wusste gar nicht, dass dahinter tatsächlich eine ganze Portion Psychologie steckt! Ich bin geistreich!)

Und plötzlich bemerken wir, dass die Review ein Problem hat – ist sie nicht herausragend, sagt sie nicht „KAUFEN“ – dann kann das nur bedeuten, dass das Werk nicht gekauft werden sollte. Denn machen wir uns nichts vor: Der Künstler will, dass ihr den Scheiß kauft und nicht, dass ihr es sinnlich durchdringt, respektiert und dann doch nicht kauft und euch Anderem zuwendet.

Die Wertung einer Scheibe als „durchschnittlich“ kann bereits dazu führen, dass man sich den Kauf mehrfach überlegt, auch wenn man es vorher eigentlich geplant hatte. Und wenn man dann als Schreiber wirklich begründete Zweifel hat, dass der neue Stil der Band gut zu Gesicht steht, dann zerbrechen schonmal ewig währende Fanschwüre.
Wir erinnern uns: Der Leser will vom Autoren das Album vorverdaut bekommen, damit er sich nicht mehr aufwändig damit auseinandersetzen muss. Er beeinflusst vorder- und hintergründig Kaufentscheidungen mit, ohne dass man nachvollziehen könnte (oder wöllte) wie er zu seinem Schluss kam. Außerdem: Die Empfehlung eines Freundes ist so viel mehr Wert als die bloße Werbung der Firma selbst. Man sieht im Review-Schreiber (unbewusst) einen Freund, dessen Werturteil man vertrauen kann. Oder will.
Und zu guter Letzt, ist der Schreibende ja ein EXPERTE. Weil er eben in der Position eines Autoren ist und um dort hin zu kommen, bedarf es ja der vorzüglichsten Qualitäten.

Und nun wechseln wir die Perspektive zum Schreibenden, der an seinem Tisch sitzt und ein Album aus einem Postbrief befreit, das er persönlich vom Promoter oder Label bekam, um es zu vermarkten. Diese Parteien schicken natürlich gerne auch handfeste Ausgaben an ihre Medienpartner. Die einen werden dafür bezahlt, Alben zu vermarkten – also besonders gut in der Medienlandschaft zu positionieren – und die anderen verdienen daran, wenn das gelingt. Die dritte Partei, also die Redakteure und Magazine verdienen meistens gar nichts daran. Sind die Magazine zu klein für Print oder Werbeschaltungen würde folgendes passieren: Redakteur XY gibt einem Album des Labels ImaginaryEvilArtistTrap einen kompletten Verriss. Passiert das dann öfter denkt sich das Label: Gut, schick ich einfach nichts mehr. Der Redakteur bekommt keine gratis Alben mehr, kann über nix mehr schreiben und muss sich fortan wieder alles selber kaufen. Doof. Deswegen wird er sich lieber zusammenreißen, wenn ihm das Label und die dortigen Bands nicht völlig egal sind. End of story.
Ist das Magazin auf Werbung angewiesen weil es sich sonst nicht tragen würde, hat das angesprochene Label IEAT zwei Möglichkeiten: Entweder sie bezahlen keine Werbeflächen im Magazin mehr, was zu erheblichen Umsatzeinbrüchen führen könnte. Oder sie kaufen Werbeflächen im Magazin, wo genau die Alben beworben werden, die man im Magazin selbst zerrissen hat. Im ersten Fall wäre das negativ bewerten also ein finanzieller Selbstmord, im zweiten Fall ein psychologischer Selbstmord.
Und das tückische daran: Schlecht bewerten heißt in dem Fall, wie bereits eingangs erwähnt, nicht EXZELLENT zu bewerten.

Denn Mittelmaß verkauft sich nicht, fast genau so schlecht wie absolute Grütze.

Also lesen wir im Durchschnitt nur Positives von großen Bands und Labels, weil sich niemand leisten kann, sie im schlimmsten Falle so kritisch zu betrachten, wie man es mit Underground so oft tut. Sie haben Angst vor den Konsequenzen. Und eben jene widerwärtige Gehässigkeit gegenüber den kleinen Newcomern ist es, die solche ferngesteuerten Magazine dann als Ausgleich und Vertuschungsversuch als Maske aufsetzen.
Also ist eine solche Wertung im Grunde ÜBERHAUPT NICHTS mehr wert. Eine 5 ist bereits Ausdruck eines absolut unhörbaren Albums, „verschwende deine Zeit nicht damit“. Aber gerade weil wir ersticken in Neuerscheinungen, ist es objektiv überhaupt nicht möglich, dass alle immer nur 8/9/10er Wertungen bekommen.
Sowas wird es hier nicht geben. Das lasse ich nicht zu – und das wissen auch unsere Medienpartner.

Hier meine ganz persönliche Richtschnur mit meinen Beispiel-Alben, die ich meinen Redakteuren im Sinne der Punktbewertung ans Herz gelegt habe und mit eiserner Faust in ihre Gewohnheiten einhämmern werde, um eben diesem Trend entgegen zu wirken.

Und damit ihr wisst, dass es eben NICHT heißt, dass ein Album mit 5 Punkten ein schlechtes Album ist.
0 Punkte: Wer auch immer das produziert hat gehört dafür bestraft. Alles von den FLIPPERS oder den AMIGOS.
1 Punkt: Man hört, dass die Musiker in der Lage waren, die Instrumente zu halten. Was danach passierte ist jedoch unerklärlich. Ich brauch jetzt nen Drink. TOTENMOND, MARDUK
2 Punkte: Die Ansätze sind da, aber es fehlt hier noch deutlich an Technik/Erfahrung/Eiern/Einhörnern. Nicht empfehlenswert. Alles von EVANESCENCE ab 2007
3 Punkte: Es könnte Fans hierfür geben, aber es sind noch Mängel erkennbar. Erträglich
„Repentless“ – SLAYER, „Billy Talent III“ – Billy Talent, „A Clear Path“- Cold Body Radiation
4 Punkte: Auf einem guten Weg, aber noch etwas zu eintönig/uninspiriert/holprig/unschlüssig. Vielversprechend, aber irgendwas stört mich noch.
„International Black Jazz Orchestra“ – SHINING, DISTURBED
5 Punkte: Das Standartalbum. Man hört es und erleidet weder Schmerzen, noch wird man davon feucht. Nach der Review kommt es in den Schrank und wird vergessen.
AMON AMARTH seit 2012
6 Punkte: Ich werde mir die Band auf dem nächsten Festival mal geben, die könnten Stimmung machen und diesen einen Song find ich echt gut/sie haben was besonderes an sich. „Moonlover“-GHOST BATH, „Arpitanian Lands“ – ENISUM
7 Punkte: Tolle Scheibe, ich kam die ganze letzte Woche nicht davon weg! Auf jeden Fall empfehlenswert. „Aura“ – SAOR , „I am Nemesis“- CALIBAN
8 Punkte: Ein Hammer Album, ich empfehle es allen meinen Freunden. Das Album läuft Wochen in Dauerschleife. „Dance of the Death“ – IRON MAIDEN , „Unia“ – SONATA ARCTICA, „Unity“ – SKYFOREST, „Ecailles de Lune“ – ALCEST
9 Punkte: Dieses Album ist ein Meilenstein des Genres (zumindest für mich). Ich bekomme es monatelang nicht aus dem Kopf und es könnte zu meinen Alltime Favs gehören. The Silent Force – WITHIN TEMPTATION/ „Exercises in Futility“ – MGLA/ Vempire – CRADLE OF FILTH, Death Magnetic – METALLICA, With Oden on your Side- AMON AMARTH
10 Punkte: Dieses Album hat mein Leben verändert. Diese Wertung kann nicht bei einem neuen Album getroffen werden. Imaginations From The Other Side – BLIND GUARDIAN / „Billy Talent II“- BILLY TALENT

Ich hoffe, ich konnte euch ein wenig dafür sensibilisieren, was eine Review und vor allem ihre Bewertungszahl bedeutet. Wenn ihr also einen vermeintlich geringen Wert für eine Review seht, denkt daran, dass wir einen realistischeren Maßstab ansetzen als die Anderen. Habt keine Angst davor anzustoßen. Zumindest, wenn ihr wisst worauf ihr euch einlasst.
Was haltet ihr davon?

 

 


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