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No Gods, no Masters: Heavy Metal in China
Dass man SILENCE mittlerweile nicht nur im Mansfelder Land liest, sondern auch dort, wo richtige Menschen wohnen, ist schon ein erstaunliches Phänomen. Umso erfreuter war ich über eine Mail aus China, welche uns Arnaud Boehmann zukommen lies. Der junge Mann studiert dort Sinologie und gibt uns einen kleinen, aber unterhaltsam-informativen Einblick in die chinesische Metal-Szene. Ich konnte mir leider ein Grinsen nicht verkneifen, als mein Hirn China mit unserer Hausband und deren Katzen-Song assoziierte … Macht was aus diesem Kopfkino. Viel Spaß beim Lesen! [René]
I’m an alien
I’m an alien,
I’m a legal alien
I’m a Metalhead in Chengdu.
Um es vorweg zu nehmen und hiernach unangetastet zu lassen: chinesischer Heavy Metal fetzt.
Die Szene ist winzig, wobei winzig in China immer noch eine unglaubliche Masse an Menschen einschließt. Dennoch ist die harte Musik in China kein wahres Massenphänomen. In den Multi-Millionen-Einwohner-Metropolen finden sich pro Stadt meist nur einige wenige Clubs und Konzerthäuser, die die schwarzgekleideten, langhaarigen Stiefelträger vor Ort mit Gigs versorgen. Wer sich die Tourplakate ansieht, stößt immer wieder auf die gleichen Namen.
Auch im Straßenbild fehlt der Diversitätsfaktor “Metalhead”. Dass man als Westler in China mitunter neugierige Blicke erntet, ist bekannt. Als blonder Westler etwas öfter, und als männlicher Westler mit langen blonden Haaren erst recht. Aber ein langhaariger, blonder laowai in schwerer Lederjacke, mit Wikingerhalskette und Ringen an den Fingern, der muss wohl wirklich wie ein Außerirdischer scheinen, selbst auf dem Campus einer großen Universität. Umso glücklicher war ich, als ich kürzlich beim Auftritt des Death-Metal-Schwergewichts BLACK KIRIN 黑麒, inmitten von 200 bis 300 Fans der Musik lauschen, einige Fotos machen und die Show einfach genießen konnte.
Von Cui Jian zu Black Kirin, Dream Spirit, Bloody Tyrant und co.
Der Rock kam erst mit der Öffnungspolitik der Deng-Ära in den späten 80ern nach China. Er manifestierte sich zunächst in einigen Wenigen, wie Cui Jian (dem „Father of Chinese Rock“), dem chinesischen Scorpions-Pendant BLACK PANTHER 黑豹 (ab 1987) und TANG DYNASTY 唐朝 (ab 1988), später bekannt als die erste Heavy-Metal-Band Chinas.
Wie Shunzi, Sänger der Folk-Metal Formation DREAM SPIRIT 梦灵 im Interview mit „The Sound Stage“ erklärt, fanden die stilprägenden westlichen Platten jedoch auf ungewöhnlichem Wege ihren Weg in die Ohren der ersten chinesischen Fans. Als Müll und Recyclingmaterial erreichten schadhafte Tonträger das Festland. Viele Tapes und CDs wurden vor der endgültigen Vernichtung gerettet, aus Neugier versuchte man sie abzuspielen und durch viele Hände weitergereicht, halfen sie bei der Entstehung der ersten Fangruppen.
Die Instrumente
Auf ganz wunderbare Weise harmonieren besonders die traditionellen chinesischen Saiteninstrumente mit kraftvollen E-Gitarren und brachialer Stimmgewalt. Die zahlreichen zweisaitigen Streichinstrumente der Erhu-Familie (二胡), werden genau wie die Guqin-Zitter (古琴) und die lautenähnliche Pipa (琵琶) oft für Intros und Bridges verwendet. Leider kommen diese bei Live-Auftritten zwar meist vom Band, sie geben dem Klangbild jedoch von vornherein einen unverkennbaren chinesischen Charakter und helfen so, auch das Publikum einzustimmen.
Besonders die taiwanische Band BLOODY TYRANT 暴君 schafft es, durch eine akustisch verstärkte und den Gitarren gleichgestellte Pipa einen ganz neuen Sound zu kreieren. Hinzu kommen häufig Flöten, die, wie im europäischen Folk-Metal auch, einen heiteren, schnellen Einsatz erleben. Einzig ein chinesisches Gegenstück zum mächtigen Dudelsack fehlt.
Die Sprachen
Zum einen ist damit gemeint, dass viele chinesischsprachige Bands nicht zwangsweise in der Hochsprache Putonghua (普通话), sondern in ihren lokalen Dialekten, beziehungsweise Lokalsprachen singen. Am ehesten zeigt sich dies an nordchinesischen Bands mit mongolischen Wurzeln. Gleich eine ganze Reihe an Bands hat es sich auf die Fahnen geschrieben, dass sie vollständig oder teilweise auf Mongolisch singen, darunter TENGGER CAVALRY 铁骑, SULD 战旗, NINE TREASURES 九宝 und die Folk-Rocker von HANGGAI 杭盖. Auch singen beispielsweise CHTHONIC 閃靈 zum Teil auf Taiwanisch.
Zum anderen gibt es auch Bands, die ihre Texte in klassischem Chinesisch verfassen. Von IN EXTREMO und Co. kennen wir Neufassungen altdeutscher Lieder und Gedichte wie dem „Palästinalied“ von Walter von der Vogelweide oder des schwedischen Gedichts „Herr Mannelig“. Mittelalterbands wie VOGELFREY nutzen auch gerne mal historisierende Sprache. Wenn jedoch in China ein Lied in klassischem Chinesisch geschrieben wird, bewegt sich das auf einem höheren Niveau.
Das klassische Chinesisch, eigentlich eine tote Sprache, nimmt in China eine ähnliche Stellung ein wie Latein für die romanischen Sprachen. Soll heißen, es wird nicht mehr gesprochen, es wird auch eigentlich nicht mehr geschrieben, besteht aber vor allem (und stärker als Latein) in Sprichwörtern und Erzählungen fort. Als Kernelement der älteren chinesischen Literatur wird es in der Schule gelehrt und verfügt über das Potential, einen Songtext gewissermaßen zu adeln. In klassischem Chinesisch abgefasste düstere, emotionsschwangere Metal-Lyrics sind durch die komprimierte Grammatik kompakter, durch die präzise Wortwahl eleganter und schaffen es zugleich, etwas von dem Glanz der alten Dichter und Philosophen zu haschen.
Der Gesang
Ebenfalls von den Bands mit mongolischem Einschlag dominiert sind die Gesangsvariationen. Neben einer großen Breite an Klargesang und all dem, was die Stimmbänder der Shouter so hergeben, hat der chinesische Metal ein Alleinstellungsmerkmal: die Verwendung des gutturalen, mongolischen Kehlkopfgesangs. Das mächtige, tiefe Dröhnen ist wie dafür geschaffen, eine Konzertmeute zum Beben zu bringen. Ein bedauerliches Manko mit Blick auf den Gesang ist das fast absolute Fehlen von Frontfrauen. Während Simone Simons, Angela Gossow, Alissa White-Gluz und viele, viele mehr Europa und die Welt rocken, bleibt der chinesische Metal, momentan zumindest, noch etwas testosteronlastig.
Um euch nicht nur trockene Worte, sondern auch etwas zum Anhören mitzugeben, hier eine kleine Auflistung von Bands, die ich empfehlen würde:
Heavy Metal: Tang Dynasty, Spring & Autumn
Thrash Metal: Suffocated
(Melodic) Death Metal: Black Kirin, Fearless, Bloody Tyrant (Taiwan), Chthonic (Taiwan)
Folk Metal: Dream Spirit, Rest in Peace
Mongolian Folk Metal: Tengger Cavalry, Ego Fall, Nine Treasures, Suld
Metalcore: Yaksa, Before the Daylight
Nu-Metal: 左右乐队
Zwar reicht der Bekanntheitsgrad der großen chinesischen Bands noch nicht für groß angelegte Europatourneen, auf den einschlägigen Festivals sind sie aber schon seit einigen Jahren vertreten und sammeln dort fleißig Sympathiepunkte für kommende Gigs. Beispielsweise spielten SUFFOCATED und CHTHONIC bereits auf dem Wacken 2012, NINE TREASURES auf dem Wacken und Woodstock (2013, 2016), EVOCATION ebenfalls aufm Wacken (2014) und DREAM SPIRIT auf dem Ragnarök-Festival (2015).
Letztere spielten ebenfalls als Support für die Ostasien-Tour von ENSIFERUM, die vor wenigen Tagen zu Ende gegangen ist. Kooperationen dieser Art und das in den letzten Jahren gewachsene Interesse für ostasiatische Musik im Allgemeinen, lassen darauf hoffen, dass wir die Metaller aus China schon bald auch auf deutschen Bühnen sehen dürfen.
Zeichen einer Krise?
Soweit scheint die Ausgangslage hervorragend. Doch was hindert den Metal daran, zu einem wahren Massenphänomen zu werden? Nicht zu einem mainstream-weichgewaschenen Massenphänomen, sondern zur Projektionsfläche gesellschaftlicher Zustände … oder gar Missstände?
Die Bezugnahme auf Lokalgeschichte, auf Mythen, Traditionen und alte Heldenfiguren ist im Metal tief verwurzelt. Gerade die chinesische Geschichte verfügt zweifellos über ein endloses Angebot an Themen für dieses Repertoire. Freilich besteht dabei stets das Risiko, ins Nationalistische abzudriften. Die Bands scheinen dies jedoch zu umgehen.
Nichtsdestotrotz müssen in China auch andere Faktoren mit in Betracht gezogen werden. So sagten die Behörden eine bereits begonnene Tour der Band VOODOO KUNG FU 零壹 ab, da sie kritische Texte im Zusammenhang mit Tibet und der Inneren Mongolei sang, woraufhin der Sänger ins Exil in die USA ging. Auch das 330 Metal Festival wurde 2015 von der Polizei aufgrund nicht näher spezifizierter Sicherheitsbedenken abgeblasen. Im gleichen Zeitraum erfuhr besonders die Beijinger Musikszene einige schmerzhafte Einschnitte. Zahlreiche Clubs und Konzerthäuser, darunter das legendäre “Mao live house” mussten schließen. Aus diesen Fällen ergibt sich eine kohärentere Sicht auf den limitierten Entfaltungsspielraum der Szene.
TANG DYNASTY schwärmen in ihrem Hit 梦回唐朝 davon, wie sie in die Tang-Dynastie, eine Blütezeit der chinesischen Kultur, zurückkehren. DREAM SPIRIT konstatierten in besagtem Interview: “Wir sind Chinesen und wollen chinesischen Metal machen.” BLACK KIRIN widmeten ihr neuestes Album “金陵祭 – Nanking Massacre” den unvergessenen Kriegsverbrechen der japanischen Armee an der Zivilbevölkerung von Nanjing im Zweiten Weltkrieg. Damit bewegen sich alle drei Bands im gewöhnlichen Fahrwasser des Genres. Auffällig sind jedoch die Parallelen zum offiziellen, geschichtlichen Narrativ, das in den letzten Jahren von Seiten der Politik geprägt wurde.
Metal, der als Musikgenre davon lebt, den Dissens mit sich selbst, der Gesellschaft und der ganzen Welt in eben jene hinaus zu schreien, erlebt momentan eine schrittweise Beschneidung seines Entfaltungsspielraums, die nicht nur mit dem (selektiv) geschichtsbejahenden Nationalismus der gegenwärtigen Politik, sondern auch mit der nach wie vor individualismuskritischen Grundhaltung der chinesischen Gesellschaft im Einklang steht.
Quo vadis, 金属乐?
In Japan war zu beobachten, wie eine große Population, Leistungsdruck im Bildungssystem und eine hohe Erwartungshaltung an persönliches Verhalten in der Öffentlichkeit den Bedarf an harter Musik schufen. In China gibt es heute unter den gleichen Vorzeichen bereits eine große Fanszene für internationale Metal-Bands. Ihre chinesischen Pendants haben großes Potential und legten in den letzten zehn Jahren einen bemerkenswerten Weg zurück. Die Konzerte und das Erleben bleiben aber das Herzstück dieses Genres. Und für dieses Erleben braucht es die Liveshows, braucht es die Festivals.
Zwar mag momentan ein dunkler Schleier über den Möglichkeiten liegen, die den Bands in China gegeben sind, doch wenn die letzten Jahrzehnte eines gezeigt haben, dann auch, dass chinesische Kulturpolitik nicht so einspurig und konsistent ist, wie man meinen könnte. Es ist absehbar, dass sich neue Schwierigkeiten den Bands, Labels und Veranstaltern in den Weg stellen werden, doch in einem Land, das sich so unwahrscheinlich schnell entwickelt wie China, werden neue Chancen nicht lange auf sich warten lassen.
Wir bedanken uns recht herzlich bei den Kollegen von sinonerds.com und natürlich Arnaud Boehmann! Alle Rechte für Bild & Text bei Arnaud Boehmann & sinonerds.com
SILENCE behält sich vor, Textpassagen unserem aktuell gültigen Styleguide anzupassen.
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