TANZWUT – Keine industrielle Revolution

TANZWUT – „Seemannsgarn“

Veröffentlichungsdatum: 07.06.2019
Dauer: 60:25 Min.
Label: AFM Records
Genre: Mittelalter/Folk-Rock

TANZWUT. Seit nunmehr zwei Jahrzehnten gehören sie zu den Schlüsselfiguren des deutschsprachigen Mittelalter-Rocks. Durch ihre einzigartige Synthese aus wuchtigen rockig bis metallisch anmutenden Gitarrenriffs, mittelalterlichen Blas- und Streichinstrumenten sowie elektronischen Raffinessen konnten sie im Verlauf ihrer Schaffenschronik eine sehr abwechslungsreiche Fanbase aufbauen. Denn mit ihren Kompositionen, welche als Schnittstellen zwischen verschiedenen Zeitsphären erscheinen, gelingt es ihnen, traditionelle Mittelalter-Sympathisanten, Gothic-Maniacs und Metal-Fans gleichermaßen auf ihre Konzerte zu locken.

Ein umfangreiches Repertoire

Während in den ersten drei Alben „Tanzwut“ (1999), „Labyrinth der Sinne“ (2000, eines meiner absoluten Lieblingsalben aus allen Genres) und „Ihr wolltet Spaß“ (2004) Industrial-Klänge noch eine tragende Säule in den Songstrukturen der Berliner Tonkünstler ausmachten, mit welchen sie u.A. wahrscheinlich auch SALTATIO MORTIS auf ihrem zweiten Longplayer „Das Zweite Gesicht“ beeinflussten, zeigte sich auf den neueren Alben ein anderer Trend. Es erstaunt schon allein, dass TANZWUT es geschafft haben von 2011 bis 2016 insgesamt sechs Alben heraus gebracht zu haben. Davon fokussierten sich zwei Scheiben prioritär auf traditionelle Mittelalter-Musik („Morus et Diabulus“ von 2011 und „Eselsmesse“ von 2014). Demgegenüber stehen vier Werke, welche zwar auch Dudelsackarrangements nicht missen ließen, jedoch tendenziell auffallend in Richtung Gothic Rock, Deutschrock und Neue Deutsche Härte ausgerissen sind. Damit sollten sich besonders Fans von beispielsweise ASP oder LETZTE INSTANZ begnügt haben.

Folgend bin ich, auch nach der ungewöhnlichen langen Durststrecke, welche die Kombo hinterlassen hat, umso gespannter, wie sie sich auf ihrem elften Album „Seemannsgarn“ präsentieren. Vielleicht als VROUDENSPIL- oder VERSENGOLD-Piratenfolk-Klon? In Anbetracht des Albumtitels erscheint mir dies nicht als abwegig. Außerdem muss ich ebenfalls erwähnen, dass ich einem annehmbaren, zeitgenössichen Mittelalter-Rock-Album aus deutschen Landen fiebernd entgegensehe. Viele Veröffentlichungen der letzten Jahre haben mich einfach enttäuscht. Dadurch, dass SALTATIO MORTIS für mich zunehmend in pseudosozialkritische Deutschrock-Sphären mit episodischen Dudelsackinterventionen abgedriftet sind, SCHANDMAUL immer balladenlastiger wurden, IGNIS FATUU nach dem Sängerwechsel ihren Charme verloren haben und INGRIMM die Kondition ausgegangen ist, möchte ich endlich wieder meine Bindung zu diesem Genre aufbauen. Gelingt dies mit der neuen TANZWUT-Veröffentlichung?

Die rauen Segel sind gesetzt

Bei Seemannsgarn erscheint die Stimme des charismatischen „rothaargehörnten“  Frontmannes Teufel von Minute Eins an als deutlich tiefer, gereifter und harscher als auf den von mir favorisierten alten Alben, wo er wirklich noch hinterlistig und verschmitzt wie der Teufel höchstpersönlich klang.  Als Novum ist dies jedoch nicht anzuerkennen. Beispielsweise auf den letzten zwei Alben „Schreib es mit Blut“ (2016) und „Freitag, der 13.“ (2015) war dies ebenfalls schon der Fall. Die Vocals auf „Seemannsgarn“ sind, im Prinzip genretypisch, in den Vordergrund gemischt worden. Die Industrial-Ebene hingegen wurde wieder komplett ausklamüsert, wodurch das Flair der alten Alben auch auf diesem Longplayer keine Renaissance feiert.

Der  gleichnamige Opener-Track leitet den Hörer nicht zu schwerfällig in die konzeptuelle Grundthematik des Seefahrer- und Gassengeschichtenmilieus ein. Der Song wird vordergründig von der Stimme und nicht von den Gitarrenriffs getragen. Meine vorausgegangene Vorstellung, dass die Band versucht VROUDENSPIL oder VERSENGOLD zu imitieren, wird nicht bestätigt. Dafür ist der Charakter der Musik zu robust, zu ernst und nicht wild beziehungsweise verspielt genug. Eher noch könnte man von einer Synthese aus IN EXTREMO und SANTIANO sprechen.

Besonderheiten und Auffälligkeiten ausgewählter Tracks in Kurzform

Im 2. Titel „Galgenvögel“  gestaltet sich das Mixing komplementär zu Jenem des ersten Titels. Hier wurden die Gitarren in den Vordergrund und die Folk-Instrumente in den Hintergrund gesetzt. Wirklich ungewohnt halbguttural mutet Teufels Stimme in Track 4 „Die Letzte Schlacht“ an, nämlich in ziemlich heroischer, kratziger und aggressiver Ausprägung.

Spätestens ab Track 5 oder 6 setzt sich das musikalische Songkonzept fest. Mir persönlich fehlt die Abwechslung, welche ich auf den ersten drei Alben kennen und lieben gelernt habe. Anstatt Mittelalter-Rock mit einem Industrial-Electro-Einschlag verschmelzen zu lassen, wird  hier dagegen moderner Mittelalter-Rock geboten, welcher mehr in Richtung NDH und Deutschrock abdriftet.

Track 8 „Francois Villon“ erzählt eine Geschichte bezüglich eines Treffens zwischen dem gleichnamigen bedeutenden Dichter des französischen Mittelalters und Teufel. Ein nettes Déjà-vu ereilt mich folgend in Titel 10 „Schmiede das Eisen“. Dessen anfängliche Sackpfeifenhooks erinnern mich stark an das zweite Album Labyrinth der Sinne, genauer gesagt an den darin enthaltenen Titel „Die Drohne“. Der anschließende Track „Gib mir noch ein Glas“ gestaltet sich als ein  gewöhnlicher Trinkgelage-/Tavernensong, welcher nicht zum exzessiven Feiern sondern zum Kollektivbewusstsein, in einer leicht melancholischen, lebensreflektierenden Manier einlädt.

Im Titel 12 „Im freien Fall“ kommen dann doch kurz auch Industrial-Einschübe am Beginn aus der Versenkung auf, welche allerdings nicht dazu neigen, sich über den Status als Randnotiz heraus zu heben. In „Herrenlos und frei“, dem vorletzten Song, gefällt mir besonders der authentische, folkloristische Einstieg.

Über alle Titel hinweg prägen zweifelsohne wieder diverse Sackpfeifen und Schalmeien das Klangbild der Kompositionen. Im Song „Francois Villon“ ertönt darüber hinaus auch das Tasteninstrument Bardoneon. Weitere signifikante Folk-Instrumente im Album sind noch die Cister (Zupfinstrument) sowie das Nyckelharpa (Streichhinstrument).

Autorenbewertung

6
TANZWUT verkennen sich (auch) auf dem neuen Silberling etwas selbst. Zwar wurde lyrisch neues Terrain betreten, was durchaus lobenswert ist. Auf musikalischer Ebene wird gewiss keine reine Piratenfolk-Kopie im Stil von VROUDENSPIL, VERSENGOLD oder ELMSFEUER dargeboten. Von Shanty-Schlagern im SANTIANO-Stil kann ebenso nicht die Rede sein, doch mit dieser durchschnittlichen Mittelalter-Rock-Platte kann mich das Septett aus der Hauptstadt im Endeffekt gleichermaßen nicht vollumfänglich überzeugen, haben sie doch mit ihren Frühwerken weitaus betörenden Charme und Charakter unter Beweis stellen können. Harte, raue und rockige Riffs kreuzen sich hier mit teils massenkompatiblen Melodien und Deutschrockattitüde. Nichtsdestotrotz empfehle ich Fans von IN EXTREMO, INGRIMM und RAGNAROECK, sich mit "Seemansgarn" einmal auseinander zu setzen.
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6 / 10 Punkten

Vorteile

+ neues lyrisches Konzept
+ rauer, wuchtigerer, rockig bis teils metallischer Sound
+ Folk-Komponenten wieder ansprechend

Nachteile

- kein musikalischer Fortschritt
- Atmosphäre der alten Alben fehlt
- insgesamt fehlt dem Werk etwas Ausstrahlung
- Melodien reißen nicht großartig mit

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