Wenn dich Baumgeister in eine andere Welt entführen

ALCEST – Kodama
Releasedate: 30.09.2016
Dauer: 42:15 Min.
Label: Prophecy Productions

Was würde ich bloß ohne Musik machen?…

… Ich würde komplett eingehen, und ich glaube, dass das nicht nur mir so geht. Ich genieße es förmlich, mich in einem guten Album für seine Spielzeit und darüber hinaus für eine bestimmte Zeit so richtig zu verlieren. Jeder kennt sicherlich den Spruch: „Musik an, Welt aus!“, und genau so etwas brauche ich einfach. Ich würde ohne solche Momente wahrscheinlich durchdrehen.

Das liegt aber weniger daran, dass ich mein Leben nicht auf die Reihe bekomme und zur Musik einfach in mich hinein weinen und in Selbstmitleid zerfließen möchte, sondern daran, dass es mich derart begeistert, was Musik mit mir anstellen kann, wenn sich in ihr eine besondere Atmosphäre aufgebaut hat, sodass ich aus dieser erstmal gar nicht mehr auftauchen möchte. Das Hören eben solcher Momente ist für mich ein pures Glücksgefühl, das sich durch meinen kompletten Speckwanst zieht.

Immer wieder ein Genuss

Ein Musikprojekt, das mir seit Jahren den Rest gibt, mich auch nach dem hundertsten Hören noch in eine andere Welt boxt und mein Gemüt in die diversesten Richtungen verändert, ist ALCEST. Wer mich kennt, der wird unschwer bemerkt haben, dass ich beim „Fangirling“ seit Monden ganz vorn mit am Start bin (allerdings ohne Kreischen und so, wir sind ja hier nicht bei den BACK STREET BOYS), und was denkt ihr, was los war, als die Franzosen verkündet haben, dass bald ein neues Album kommt – „Kodama“?

Ihr wisst ja wie es ist, wenn man voller Vorfreude die Zeit abwarten muss. Da führt man sich auch als Erwachsener ganz schnell auf wie ein Kind in der Vorweihnachtszeit. Doch wenn man dann die Möglichkeit erhält, schon mal VOR dem Releasedate in die Platte reinzuhören, auf die man so unfassbar ungeduldig hinfiebert, ist das wie Weihnachten, Zahltag und Kindergeburtstag bei McDonald’s zusammen.

Das allererste Mal – ein hoch und runter!

So war es dann auch. Als es mir möglich war, das allererste Mal in „Kodama“ reinzuhören, war es nachts und ich wollte eigentlich ins Bett. Den Plan habe ich nach den ersten Klängen verworfen. Ich musste das Album vier Mal hören, bis meine erste Dosis ALCEST gedeckt war. Diese Dosis musste jedoch direkt am nächsten Morgen nach dem Aufstehen erhöht werden. Die Platte läuft bei mir hoch und runter. Ich kann einfach nicht genug davon bekommen.

„Kodama“ startet mit dem Titeltrack, und schnell wird klar, dass ALCEST  – wie auf jedem bisherigen Album – unter tausend anderen Bands mit Leichtigkeit wiedererkannt werden können. Schnell bin ich auch wieder in einer fernen Traumwelt, denn ich bin sofort gebannt von den ersten Klängen des Albums. Ich hatte zuvor wahnsinnig viel von dem Album erwartet und war gespannt, wie die Franzosen die japanischen Einflüsse wohl vertonen würden. Doch eigentlich bin ich jetzt schon ein kleines bisschen hin und weg. Der erste Track ebnet die akustische Reise durch japanische Lande und grüne Wälder, in denen die Baumgeister – die „Kodamas“ – sitzen, mit Bravour. Sofort hab ich ein Wechselspiel warmer und kalter Farben sowie etliche Szenen aus dem Film „Prinzessin Mononoke“ im Kopf.

„Eclosion“, der zweite Song der Platte, steht dem Titeltrack in nichts nach. Vor allem die Leute, die auf dem vorherigen Album „Shelter“ Neiges Screams sowie die Blasts vermisst haben, kommen aber mal sowas von wieder auf ihre Kosten. Ich liebe die Abwechslung in diesem Stück. Die Ausbrüche nach ruhigen Passagen lassen mich noch tiefer in eine japanische, weitläufige Traumwelt sinken. Die Mischung aus den minimalistischen, asiatischen Klängen mit viel Hall und der typischen ALCEST-Breite setzt mir einen derben Ohrwurm in den Kopf.

Allez, allez! Weiter geht’s …

Weiter geht es mit „Je Suis D’alleurs“, dem, meiner Meinung nach, traurigsten und schwermütigsten Titel der Platte – als hätte man eine Chance im Leben verpasst und könnte sich selbst genau das nicht verzeihen. In der Mitte des Titels baut sich das Instrumental Stück für Stück auf und kommt aus der Ferne immer näher, bis die angestaute Verzweiflung ihren Höhepunkt erreicht und dem Unmut freien Lauf gelassen wird. Screams, Melancholie, Blastbeat – Gänsehaut. Ich bin überwältigt und muss mich erstmal wieder fangen.

Dabei unterstützt mich „Untouched“, der wohl romantischste Song des Albums. „Untouched“ ist sehr ruhig, sehr tragend. Vor allem ein Riff trägt zur Beruhigung des aufgewühlten Gemüts bei. Es wird bei verzerrtem Gitarrensound in erster Linie gezupft und die Atmosphäre im Raum wird wärmer, wenn die Wellen dieses Liedes durch den Raum schwingen.

Jetzt, da wir uns alle wieder beruhigt haben: „Zähne putzen und ab ins Bett!“ steht noch nicht auf der Tagesordnung. Vorher schepperts nochmal gewaltig, und zwar mit „Oiseaux de proire“. Was für ein hammergutes Lied! Schon als dieses Stück als Erstes vor dem Album-Release auf Youtube veröffentlicht wurde, habe ich es endlos gesuchtet. Ich konnte nicht oft genug meine Lauscher mit dieser Ohrenweide erfreuen. „Oiseaux de proire“ projiziert mir zum Ende hin nochmal genau die Bilder vors innere Auge, die ich zu Anfang des Albums gesehen hatte. Warme und kalte Farben im Wechsel, endlose Wiesen und Wälder, durch die man sich hindurch bewegt, die Sonne ist fast untergegangen und beleuchtet zusammen mit dem Mond die naturbelassene Umgebung – weit und breit kein anderer Mensch zu sehen. Wow!

Letzte Töne… und gleich nochmal!

Während ich gebannt bin von den letzten Klängen dieses Liedes, erklingt der letzte Track der Scheibe: „Onyx“. Ich denke, „Onyx“ lässt sich nicht als vollwertiges Lied bezeichnen, sondern eher als abrundendes Instrumental – ein ziemlich deepes Instrumental. Man hört nur verzerrte Gitarren, Hall und Rauschen. Dieses – ich nenne es einfach mal – Outro bewirkt bei mir, dass ich die gefühlsmäßigen Höhen und Tiefen des Albums nochmal Revue passieren lassen kann. Ich kann jetzt abschalten und mich besinnen und kehre aus der, durch die Musik erschaffenen, Traumwelt zurück. JETZT heißt es: „Zähne putzen, ab ins Bett!“, es sei denn, ihr tut es mir gleich und hört das Album zuvor nochmal… und nochmal… und nochmal.

Ich habe „Kodama“ mittlerweile bestimmt weit öfter als 50 Mal gehört und bin immer noch hin und weg. Das Album klingt nach Fernost, nach endloser Weite im Grünen, nach Sehnsucht und nach Einsamkeit. Ein weiteres Mal haben es Neige und Winterhalter geschafft, Musik zu kreieren, in der ich mich komplett fallen lassen kann – und will. Generell erinnert mich der Mix der Instrumente an das Album „Écailles de Lune“, auch die hohen Screams sowie die unfassbar gute, verfrickelte, teils auch derbe Arbeit hinter den Drums lässt vermuten, dass ALCEST zu älteren Gefilden zurückkehren.

Meine Meinung ist allerdings eine andere: „Kodama“ – ein ALCEST-Album im alten Stil? Nein! Ich finde, jedes Album der Franzosen vermittelt eine andere Stimmung, eine andere Art von Schwermut, und trotzdem klingt jede Scheibe nach ALCEST. Während „Shelter“ beispielsweise sehr soft und dreampoppig klang, so ist „Kodama“ eben wieder eine Nummer härter und trotzdem sehr frisch und neu, aufgrund der asiatischen Note. Für mich stellt dieses Album ein weiteres Mal den Beweis dafür dar, dass Neige und Winterhalter wahnsinnig vielseitige Musik erschaffen können und nie langweilig oder eintönig wirken, obwohl sie die ALCEST-Schiene nie verlassen.

Autorenbewertung

10
Ich bin unfassbar geflasht von "Kodama" und kann mich im Alltag oftmals kaum gedulden, bis ich das Album endlich wieder hören kann. Natürlich ist meine Bewertung der Platte sehr subjektiv gestaltet und von meiner generellen Vorliebe für diese Band vorbelastet. Damit will ich sagen, dass jemand, der ALCEST überhaupt nicht gern hört, wahrscheinlich auch weniger mit der Platte anfangen kann, als ich. Für mich stellt dieses Album allerdings die bisher beste Neuerscheinung des Jahres dar, daher gibt es von mir die Bestnote.
ø 4.2 / 5 bei 14 Benutzerbewertungen
10 / 10 Punkten

Vorteile

+ Abwechslung in den Songs hoch, Höhepunkte kommen dadurch extrem stark zur Geltung
+ Typisch ALCEST, aber trotzdem neue Stilelemente mit asiatischem Charakter
+ Screams wahnsinnig stark, gefühlvoll
+ Musik lässt Bilder im Kopf entstehen und entführt den Hörer in eine andere Welt

Nachteile

- ich verstehe die Frage nicht?!

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