Startseite»Reviews»Death Metal»MOONSPELL- 1755: Ein Drama auf Portugiesisch

MOONSPELL- 1755: Ein Drama auf Portugiesisch

3
Geteilt
Folge uns auf Pinterest Google+

MOONSPELL – 1755
Veröffentlichungsdatum: 03.11.2017
Dauer: ca. 47 min
Label: Napalm Records
Genre: Gothic Metal

Ein feuriger Sturm zieht im Süden auf: MOONSPELL, die Legenden der portugiesischen Metalszene, beglücken uns mit einem neuen Meilenstein ihrer Bandgeschichte. „1755“ heißt das gute Stück und ist vor einem Hintergrund erschienen, der nicht weniger finster ist als die 10 Songs, die uns auf der Scheibe erwarten.

WAS GIBT ES NEUES?

MOONSPELL sind schon lange bekannt dafür, auf jedem Album ihren musikalischen Stil leicht zu variieren. „1755“ bietet gleich 2 signifikante Neuerungen:

1. JETZT WIRDS HISTORISCH

Ein zeitgenössisches Bild zeigt die Tragödie: Das Erdbeben, die Brände und den Tsunami im Vordergrund.

Die Songs der Platte befassen sich fast ausschließlich mit der Naturkatastrophe, die im Jahre 1755 die Landeshauptstadt Lissabon heimsuchte. Ein Erdbeben, gepaart mit einem Tsunami und einem Großbrand, legte damals fast die ganze Stadt in Schutt und Asche. Ironischerweise geschah dies am 1. November des Jahres, am portugiesischen Allerheiligentag also, in der Landessprache „Dia de todos os santos“. Die Katastrophe foderte geschätzte 30.000 bis 100.000 Todesopfer und zählt bis heute zu den schlimmsten, die jemals den europäischen Kontinent heimgesucht haben. Dementsprechend hat sie ein bis heute tief klaffendes Loch in die Erinnerung der portugiesischen Bevölkerung gerissen. Und ebenso tragisch klingt auch „1755“.

2. FAZ DIA EM PORTUGAL!

Was in der Vergangenheit schon vereinzelt vorkam, ist nun Programm. Bis auf wenige Ausnahmen im Chorgesang sind alle Lyrics des Albums auf Portugiesisch verfasst. Das verleiht dem Album ein ganz besonderes Feuer: Die kräftige und variable Muttersprache der Band sorgt für den einmaligen Klang der Songs. Nicht nur die südländische Atmosphäre klingt mit, nein, Sprache und Musik bilden auf dem Album eine untrennbare Einheit. Möglicherweise verliert die Band dadurch etwas internationalen Einfluss. Dafür werden sich die einheimischen Fans wohl umso mehr für dieses Album begeistern können.

EINMAL DAS KULTURPROGRAMM, BITTE!

Auffällig ist auf „1755“ vor allem der verstärkte Einsatz verschiedener Chöre, der schon im ersten Song zur Geltung kommt. Die Re-Interpretation von Em Nome Do Medo“ (dt. „Im Namen der Angst“) ist gleichsam so musikalisch gelungen, wie auch eine geniale Einleitung für das Album. In der Originalversion sehr heavy, verzichtet die neue Version gänzlich auf gewöhnliches Metal-Band-Equipment. Stattdessen sind Klaviere, ein großes Orchester und verschiedene Chöre an Bord, die aus dem ursprünglich sehr rockigen Stück eine episch-turbulente Mischung aus Filmmusik und Oper kreieren.

Der starke Einsatz von (lateinischen) Chören verleiht vielen Songs, so zum Beispiel dem namensgebenden „1755“, einen sehr kirchlich-religiösen Touch. Passend, schließlich ist Portugal seit jeher eine sehr gläubige Nation. Insgesamt gestalten sich die Songs durchgehend episch-dramatisch und finster. Die Melodieführung übernehmen Gitarren und Synthesizer, die zusammen eine gelungene Kombi bilden. In Songs wie „In Tremor Dei“ fühlt man sich dann und wann an nahöstliche Tonleitern erinnert. Außerdem taucht der portugiesische Fado-Sänger Paulo Bragança auf, der mit seinem landestypischen Gesang die südländische Atmosphäre vervollständigt.

„Desastre“ und „Abanão“ zeichnen sich durch viele starke Rhythmuswechsel aus, tatsächlich gleicht auf dem Album jedoch kein Song wirklich dem anderen. Jeder besitzt seinen eigenen Wiederkennungswert, so ist bei „Evento“ mit seinen epischen Passagen ein Ohrwurm vorprogrammiert.

ALLE HEILIGEN… WAREN NICHT GENUG

In „1° De Novembro“ (Allerheiligen, der Tag des Unglücks also) werden die Götter in Frage gestellt- ganz nach dem Prinzip der Band, dass es „keinen Gott neben den Menschen gibt“ (Zitat des Sängers). Der Song ist zwar weniger finster, erinnert stellenweise mehr an eine Rockoper, dafür kommt die Sprache hier ganz besonders zur Geltung, die den gesamten Song anfeuert. Stattdessen bleibt „Ruínas“ ein eher tragisch-gefühlvoller Song, der von Psychedelic-Rock-Elementen in ein dramatisches Stück mit tragenden Gitarren- und Klaviersoli übergeht.

„Todos Os Santos“, der erste vorveröffentlichte Song des Albums, bleibt wohl der stärkste des Albums. Mit seinen dramatischen Textpassagen, der wuchtigen Zusammenarbeit von Band und Chor und den ständigen Spannungswechseln sorgt er für nicht abreißen wollende Gänsehaut.

Lediglich der letzte Song „Lanterna“ hält sich nicht an das Konzept. Tatsächlich handelt es sich um ein Cover der brasilianischen Band OS PARALAMAS DO SUCESSO. Aus einem Popsong formte die Band hier eine atmosphärisch-kraftvolle Ballade, die hier und da fast wie ein tröstendes Schlaflied klingt. Als ich den Song zum ersten Mal gehört habe, fühlte ich mich direkt an meine Portugal-Reise erinnert. Ein Song also, der berührt und für mich der geheime persönliche Favorit des Albums ist. Auf jeden Fall ein würdiger Abschluss für ein so dramatisches wie musikalisch gelungenes Werk.

ZWISCHEN GESCHICHTE UND GEGENWART

Schon mit dem ersten Musikvideo zu „Todos Os Santos“ wurde klar, dass die Band es nicht ausschließlich auf die Schilderung der Tragödie abgesehen hat: Man kritisiert gleichzeitig die Gesellschaft, verschiedene aktuelle Politiker und setzt sich mit Katastrophen auseinander.

Eine Momentaufnahme der Waldbrände, die seit der Jahresmitte das Land in Atem halten.

Dabei hat gerade Portugal seit Jahrzehnten mit einer schwachen Infrastruktur und einem hinterherhinkenden Bildungssystem zu kämpfen. Viele, gerade jüngere Menschen verlassen das Land ohne Aussicht auf einen Beruf im eigenen Land, mit dem sie ihren Lebensunterhalt ausreichend sichern können. Außerdem suchen jedes Jahr grausame Waldbrände das Land heim, meist ausgelöst durch Brandstiftung, bei denen tausende Hektar Wald dem Erdboden gleichgemacht, Menschen sterben und Häuser zerstört werden. Das Land steckt seit langem in der Krise – und so ist MOONSPELLs „1755“ wohl nicht nur eine Erinnerung an eine furchtbare Katastrophe, in der sich die Menschen von allen Göttern verlassen gefühlt haben mussten, sondern auch als Mahnung an unsere gottlose Zeit zu verstehen, in der Korruption und Krieg auf der Tagesordnung stehen.

MOONSPELL auf Facebook

MOONSPELL begeben sich von Januar bis März 2018 mit CRADLE OF FILTH auf Tour durch Deutschland, Österreich und die Schweiz. Tickets gibt es hier.

Autorenbewertung

9
Auch wenn "1755" vielleicht nicht als szeneprägendes Album in die Geschichte eingehen wird, ist es doch durch und durch ein gelungenes Werk der Musiker, die sich sprachlich, musikalisch und thematisch auf ihre Wurzeln besonnen haben. Die Songs bilden in sich abgeschlossene, wirkungsvolle Gesamtwerke, in denen Sprache, die Instrumente und die Melodien im Allgemeinen ein starkes Ganzes bilden. Das Album wird nicht langweilig und ist auf jeden Fall für jeden zu empfehlen, der es auch gerne mal etwas melodischer hat und sich gerne mit fremden Einflüssen auseinandersetzt.
ø 4.7 / 5 bei 5 Benutzerbewertungen
9 / 10 Punkten

Vorteile

+ stimmige Komposition von Band und Orchester
+ starke Dramatik in den Songs, ohne melodramatisch zu werden
+ starkes Album mit kraftvollen und sanften Parts

Nachteile

- deutliche Veränderungen gegenüber früheren Werken

Du liest diesen Beitrag, weil unsere Autoren lieben, was sie tun - wenn du ihre Arbeit liebst, kannst du uns, wie andere schon, unterstützen. Wie? Mit einem kleinen monatlichen Beitrag über silence-magazin@patreon Patreon
letzter Artikel

ENSLAVED - die Söhne des Sturms

nächster Artikel

INANIMATE EXISTENCE - Nur eine von vielen?

4 Kommentare

  1. […] Album “1755” an Bord, das vorgestellt werden will (die Review zur Platte findet ihr HIER). Während CRADLE OF FILTH an diesem Abend mit 2 Stunden Show eine deutliche Überlänge hinlegen, […]

  2. […] Death Metal/Progressive/Reviews […]

  3. Azrael
    4. November 2017 bei 22:46 — Antworten

    Keine Frage, starkes Album, aber die gleiche Wertung wie die neue Enslaved? Also im Vergleich zu E scheitert – klingt drastisch, muss ob der Genialität dieser Scheibe dennoch so gesagt werden – 1755 um Längen und hält nicht annähernd mit.

    • Steffi (Autorin)
      5. November 2017 bei 13:57 — Antworten

      Danke für deine Meinung. Stiltechnisch liegen die beiden Bands wohl allerdings so weit auseinander, wie Geschmäcker es tun können.

Hinterlasse eine Antwort

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert