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ORPHANED LAND – Achtung, unbequem!

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ORPHANED LAND – „UNSUNG PROPHETS AND DEAD MESSIAHS“

Veröffentlichungsdatum: 26.01.2018
Dauer: 57:30 Min.
Label: Century Media
Genre: Israelischer Folk Death Metal

Wer keinen Bock auf politische Musik hat, sollte jetzt besser weghören. Denn das, was ORPHANED LAND mit ihrem neuen Album „Unsung Prophets And Dead Messiahs“ geschaffen haben, wühlt auf und tut weh. Vorausgesetzt natürlich, man lässt sich darauf ein.

Die Erfolgstruppe aus Israel präsentiert damit ihr 6. Studioalbum; eine Platte, die eigentlich schon seit Jahren in den Startlöchern stand. Aber die Jungs hatten Größeres vor. Kennt man von ihnen vorrangig Songs zu Religionstoleranz, dem Krieg, der in ihrer Heimat bis heute untergründig auf der Tagesordnung steht und der Geschichte der 3 großen Religionen (Christentum, Judentum, Islam) an sich, zeigt „Unsung Prophets And Dead Messiahs“ noch eine ganz andere Seite auf: eine Wütende. Wütend auf die Gesellschaft, die die betäubende Beschallung durch Boulevardpresse der Auseinandersetzung mit unprominenten Missständen vorzieht. Verständnislos über eine Welt, in der Fake News vielschichtiger Recherche vorgezogen werden, einfach, weil es so schön bequem ist. Verzweifelt im Angesicht der Zivilisation, die sich nicht widersetzt. Aber fangen wir von vorne an.

ORPHANED LAND (v.r.n.l): Idan Amsalem, Matan Shmuely, Kobi Farhi, Uri Zehla, Chen Balbus

DAS KONZEPT

Das neueste Werk der 5 Jungs von ORPHANED LAND ist ein Konzeptalbum, bei dem jedem Philosophen das Herz aufgeht. Wer erinnert sich noch an Platons Höhlengleichnis? Großes Schweigen? Das ist nicht weiter wild, auch ich musste meine Erinnerung etwas auffrischen. Eine kurze Zusammenfassung: Menschen leben ihr gesamtes Leben schon in einer Höhle, in der sie gefesselt auf eine Wand starren. Hinter ihnen brennen Feuer, die Tiere, Gegenstände und andere Menschen, die dazwischen hindurchlaufen, als Schatten auf die Wand werfen. Das ist die Realität der Höhlenbewohner. Eines Tages kann sich einer von ihnen befreien, tritt aus der Höhle und nimmt die wahre Welt in all ihren Farben und Formen wahr. Er geht zurück, weil er das Gefühl hat, diese neue Errungenschaft mit seinen immer noch gefangenen Brüdern teilen zu müssen. Diese glauben allerdings, dass er den Verstand verloren hat, halten an ihrer Realität fest und bringen ihn um.

Dieses Gleichnis ist die Schablone, mit der das Album überzeichnet ist. 13 Songs, davon 12 Etappen auf dem Leidensweg des Befreiten, dem Messiahs“, und Nummer 13: „The Manifest – Epiloque“. Natürlich präsentiert man uns als Zuhörern nicht nur reine Weltkritik. Das gesamte Album ist musikalisch gewohnt ausgefeilt und vielschichtig. Wer die Israelis kennt, weiß, auf welch ungewöhnliche Art und Weise sie landestypische Instrumente und Rhythmen mit klassischen Elementen aus Death, Thrash und Doom Metal verbinden. Gefällt vielleicht nicht jedem, ist aber die musikalische Horizonterweiterung allemal wert. So erwarten uns auch hier wieder Songs voller landestypischer Melodien, dieses Mal aber doch ein ganzes Stück härter als auf dem Vorgänger „All is One“. Es gibt mehr Growls und mehr Auf-die-Fresse im Sinne durchbrechender Drumparts und gewalttätiger Gitarrenarbeit. Das trifft meinen musikalischen Zahn besonders – vergangene Stücke waren mir doch manchmal zu dudelig, wenn die Stimmung nicht gepasst hat.

EINE SCHEIBE VOLLER ÜBERRASCHUNGEN

Durchzogen wird das Ganze von kritischen Statements im Dauerfeuer, viel Philosophie und (Überraschung!) grandiosen Gastmusikerparts. Angefangen bei STEVE HACKETT (Ex-GENESIS), der für „Chains Fall To Gravity“ ein Gastsolo beisteuerte, das wie Butter in den Ohren zerläuft und die Emotionen des Songs einmalig kompensiert. Weiter über Hansi Kürsch, von dem man nicht mal wissen muss, dass er bei „Like Orpheus“ mitgewirkt hat: Man hört es einfach. Seine einmalige Gesangsstimme gibt dem Song noch ein ganzes Stück mehr Farbe- und eine gehörige Portion Power Metal. Da geht jedem BLIND GUARDIAN-Fan das Herz auf, versprochen. Zum Schluss reiht sich noch Tomas Lindberg (AT THE GATES) ein, der dem Song mit dem schwer wiegenden Titel „Only The Dead Have Seen The End Of War“ seine charakteristisch finster-krächzende Stimme leiht.

Wer solche Gastmusiker vorzuweisen hat, der hält auch noch andere Überraschungen auf dem Album bereit. „Poets Of Prophetic Messianism“ (what?) ist tatsächlich ein musikalisch vertontes Zitat des griechischen Philosophen Platon, natürlich nur stilecht auf Altgriechisch. Übersetzt: „Jeder, der eine Meinung innehat, die der Wahrheit entspricht, und nicht verstanden wird, ist wie ein Blinder auf dem richtigen Weg.“ Das sitzt. „Yedidi“, der 5. Song auf dem Album, ist ein uraltes Gebetslied auf Hebräisch, neu vertont. Kann man mögen, muss man nicht. Aber wann schadet es schon, mal über den eigenen Tellerrand hinauszusehen?

Weiterhin wird Janusz Korczak zitiert, ein polnischer Kinderarzt, der die Kinder seines jüdischen Waisenhauses beim Abtransport begleitete, obwohl das seinen eigenen Tod bedeutete. Und zum Schluss „The Manifest – Epilogue“, eine Adaption des Songs „Manifiesto“ von VÍCTOR JARA. Sagt euch nichts? Das dürfte für die meisten gelten. Es handelt sich hierbei um einen chilenischen Musiker, der sein ganzes Leben bis in die 70er politisch aktiv war, bevor er vom putschenden Militär erschossen wurde.

„Songs of bravery will always be new songs, forever.“ (VÍCTOR JARA)

Ganz schön harter Tobak in einer Zeit, in der gerade die Popkultur keinen Platz für politische Songwriter hat. Weiterempfehlen kann ich die Platte auf jeden Fall, sei es nur, um den eigenen musikalischen Horizont zu erweitern oder um sich zum Nachdenken anregen zu lassen: Es lohnt sich in jedem Fall.

Sänger Kobi Farhi erklärt das Album Track By Track:

ORPHANED LAND LIVE UND EXKLUSIV MIT UNS IM INTERVIEW!

Wer Lust hat, die Band live zu erleben, hat dazu zeitnah an verschiedenen Terminen in Deutschland und der Schweiz die Chance (Dates und Tickets gibts HIER). Wir werden am 07.03.18 im Bi NUU in Berlin dabei sein und die Macher von „Unsung Prophets And Dead Messiahs“ in persona zu ihrer neuen Scheibe befragen.

Wie ist eure Meinung zu der ganzen Thematik und zum neuen Album? Brennen euch Fragen auf der Zunge, die ich ORPHANED LAND im Interview stellen soll? Diskutiert mit mir in den Kommentaren und auf Facebook. Ich bin gespannt.

ORPHANED LAND im Web und auf Facebook

Autorenbewertung

8
Ein Album, das in seiner Tragweite viele andere in den Schatten stellt, voller Kritik an unserer Gesellschaft und wertvoller Lebensphilosophie. Wer darauf Bock hat, der ist bei diesem Album genau richtig aufgehoben. Vielleicht keine Mucke zum Nebenbeihören, wohl aber zum ZU-hören. Und musikalisch so einmalig, dass es sich für jeden lohnt, der Lust hat, mal etwas Neues in Sachen Genreüberkreuzungen zu entdecken. Must Hear!
ø 4.4 / 5 bei 5 Benutzerbewertungen
8 / 10 Punkten

Vorteile

+ verdammt gelungene politische Musik
+ grandiose Gastmusiker
+ musikalisch gewohnt abwechslungsreich und extravagant

Nachteile

- relativ "dudelig": eventuell nichts für Hartgesottene
- allumfassend politisch

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5 Kommentare

  1. Barbara
    21. April 2020 bei 0:31 — Antworten

    Doch, ich wusste, wer Victor Jara ist – meine Mutter hat den früher immer gehört, und ich hab (da nicht ausschliesslich an Metal, sondern auch an Weltmusik interessiert) sogar auch eine Scheibe von ihm. Tragische Figur, deren Schicksal unter dem Pinochet-Regime sehr bewegt. Bewegend auch die Musik, die Ihr oben besprecht – ich höre im Metal-Sektor derzeit vor allem Iron Maiden, Black Sabbath und Motörhead, hab Orphaned Land bis jetzt nur flüchtig gekannt. Nun habe ich eben mal richtig in die Scheibe reingehört – alter Schwede, es haut mich regelrecht um. (Perfekte Verbindung, wenn man Metal und ausserdem auch orientalische Klänge mag. 🙂 )

  2. […] Prophets and Dead Messiahs” wird das Fest eröffnet. (Die Review dazu findet ihr übrigens HIER.) Und sowohl Band als auch Publikum sind in der besten Stimmung, die man sich für so ein […]

  3. Vicer Exciser
    13. Februar 2018 bei 17:31 — Antworten

    Gutes Review, ich muss mir die Scheibe unbedingt demnächst mal anhören. Kleiner Fun Fact: Ich wusste, wer Víctor Jara ist, weil es einen Song von Heaven Shall Burn über ihn gibt („The Weapon They Fear“).

    • 13. Februar 2018 bei 18:08 — Antworten

      Vielen Dank! Mein Favorit des Jahres, bis jetzt natürlich. Und das ist echt interessant, ich kannte zwar den Song, hab mich aber bei HSB nicht intensiv mit den Lyrics beschäftigt. Es scheint sich aber zu lohnen 🙂

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